Fahr doch mal nach Pömmelte /
Für ihren Roman „Umlaufbahnen“ hat die Britin Samantha Harvey 2024 den Booker-Literaturpreis bekommen. Das Buch handelt von einem Team aus sechs internationalen Astronauten, vier Männer und zwei Frauen, die an einem Tag auf der Raumstation mit 27 000 Stundenkilometern sechzehn Mal um die Erde kreisen, von ihren Sorgen und Hoffnungen, Gefühlen und Gedanken.
Die deutschen Literaturexpert:innen sind sich einig und loben an dem Buch den außerirdischen Blick auf die Erde. Er lasse unsere Welt komisch und neuartig erscheinen. Sei es die Klimakrise, die die Autorin mit Reflexionen über die Verletzlichkeit der Welt einflicht oder die Schönheit der Erde, vom All aus betrachtet. Dabei entstehe eine Atmosphäre, die immer wieder deutlich mache, dass es Zeit ist, aufzuwachen und sich um Mutter Erde zu kümmern. Das Buch sei eine „Weltraum-Pastorale“, die überzeugend für ein ressourcenschonendes Miteinander eintritt. In einem immer wieder zwischen der Winzigkeit des Menschen und der Großartigkeit des Alls changierenden Wechsel schreibe Harvey in einem fließenden, gefühlvollen, aber nie pathetischen Strom über Mutter Erde und Vater Weltraum. Es sei auch verständlich, heißt es in einer der Besprechungen, dass das Interesse am Weltall derzeit in vielen Medienformaten groß ist.
Wie so ein Buch dann tatsächlich wirkt, ist schwer zu sagen. Wachen die Leser:innen auf, kümmern sie sich besser um Mutter Erde oder weckt der Roman den Wunsch, auch mal so eine Perspektive einzunehmen? Vielleicht bei einem touristischen Ausflug ins All. Die Schönheit wird dann bei Instagram geteilt und unserem Orbit ergeht es wie einigen Stränden, Bergen und Städten, die man einfach mal erlebt haben muss.
Den Blick aus dem All auf die Erde beschreiben alle Astronaut:innen seit gut siebzig Jahren gleich. Aber ist das wirklich eine neue Perspektive auf uns und den Planeten, auf dem wir wohnen? Wurde der Blick vom Mount Everest, der Grenze der habitablen Zone, nicht ähnlich wahrgenommen, haben die ersten Flugpioniere nicht das gleiche gesagt? Oder etwas weiter zurück: die Romantiker?
Kurz vor Sonnenaufgang. Ich fahre mit dem Rad zur Arbeit. Auf der Brücke über dem Fluss halte ich an. Eine graue, winterliche Wolkendecke, die von innen zu leuchten scheint. Die Dunkelheit, die Kälte, der Wind, die kleinen Wellen auf dem schwarzen, zähen Wasser, das unter mir hindurchfließt. Für einen Augenblick vergesse ich die Stadt, die Arbeit, meinen Kontostand und was sonst noch alles auf der Welt passiert. Ich bin jetzt hier. Die Kälte, das Weltall und ich. Eigentlich müsste mir schwindlig sein. Die Erde dreht mich mit 1670 Kilometern pro Stunde um ihren Mittelpunkt, das sind 464 Meter in der Sekunde. Aber das ist noch nicht alles: Um die Sonne kreisen wir mit einer Geschwindigkeit von 30 und um das Zentrum unserer Galaxie mit 220 Kilometern. Pro Sekunde! Spüren Sie den Schwung? Und der Mond macht, dass die Erde dabei etwas tanzt.
Ich erinnere mich an ein Ringheiligtum aus der Bronzezeit, das südlich von Magdeburg liegt: Pömmelte. In einer flachen von der Eiszeit glatt geschliffenen Landschaft. Hier hat man bei Nacht einen schönen und tief gehenden Blick in die Unendlichkeit. Gerade jetzt zur Wintersonnenwende: Klirrende Kälte, ein dunkler mit Sternen übersäter Himmel, bei dessen Anblick man gar nicht anders kann, als die eigene Verletzlichkeit und die der Erde, auf der man steht, zu spüren. Darum gibt es dieses Ringheiligtum, es ist ein Raumschiff der Vorgeschichte. Die Himmelsscheibe von Nebra diente der Navigation durch das Jahr, die Ewigkeit, die Sterne und das Nichts.
Samantha Harvey, Umlaufbahnen, Deutsch von Julia Wolf, dtv Verlag