Gedanken zum Thema „Literarische Wertung“
Klar, etwas zu bewerten ist einfach. Es genügt sein Gefallen oder Missfallen zu äußern. Das ergibt eine legitime, subjektive Kritik. Aber sie bringt einen nicht viel weiter. Es handelt sich um eine expressive Aussage und über die kann man nicht diskutieren. Ich liebe das Meer. Punkt!
Erst wenn Begründungen hinzukommen, wird ein Gespräch möglich: „Das Buch gefällt mir, weil es spannend ist.“ Und schon geht es los! Was ist Spannung? Wie wird sie erzeugt? Gibt es verschiedene Formen von Spannung? Was macht diese oder jene Spannung mit der Leserin oder dem Leser? Gefällt mir die gleiche Spannung wie dir? Schon ist man im Bereich der Beobachtungen, Beschreibungen, Definitionen und Wirkungen. Spannung ist ein Phänomen und ein Kriterium. Wie lässt sich der subjektive Eindruck davon objektivieren?
Was eben noch einfach war, wird ziemlich schnell kompliziert. Von was reden wir? Von der Spannung eines Krimis oder eines Thrillers, der eines psychologischen oder eines Entwicklungsromans. Es gibt eine Spannung, die durch den Plot erzeugt wird (longitudinal) und eine, die durch die Themen entsteht (transversal). Man kann all diese Spannungen miteinander vergleichen, sie als schlecht, mittelmäßig oder als große Leistung beurteilen. Am Ende bleiben viele Fragen offen, denn eine ästhetische Wertung ist eine Argumentation und insofern nie wirklich abgeschlossen.
Literarische Wertung – die Kriterien ändern sich
Die grundsätzlichen Argumentationsmuster kann man zu fünf Modellen zusammenfassen. Immer geht es darum, zwischen einem subjektiven und einen objektiven Ansatz ein Gleichgewicht herzustellen. Die Kriterien hingegen sind wesentlich zahlreicher. Und sie ändern sich im Lauf der Zeit und aufgrund des gesellschaftlichen Rahmens. Nur ein Beispiel: Was vor fünfzig Jahren noch als skandalöser, die Einstellungen der Leserinnen und Leser verändernder Tabubruch galt, ist heute eventuell normal, nichts besonderes, kalter Kaffee.
Ich habe die Modelle und die Kriterien in jeweils einer Übersicht zusammengefasst. Außerdem gibt es eine Liste mit den Gründen für die häufigsten Missverständnisse, die bei wertenden Diskussionen über Literatur auftreten können.
Das Gute, das Schöne oder das Wahre?
Überblick über die literarische Wertung
Modelle[1]
Appetenzurteil: Ein persönliches Gefallen oder Missfallen wird durch Texteigenschaften begründet, wodurch mit dem Urteil oft Anspruch auf allgemeine Geltung erhoben wird: Versuch, einen subjektiven Eindruck zu objektivieren, um ihn dann zu verallgemeinern.
Leistungsurteil: Eine als nachweisbar begriffene Leistung des Textes oder ein besonderes Können des Autors wird Ausdruck von Achtung oder Bewunderung: Versuch, eine objektive Texteigenschaft durch subjektive Einordnung zu verallgemeinern.
Akzeptanzurteil: Stellt das Werk in eine Reihe von Werken, die durch konventionalisierte Kategorien gebildet wird. Diese Reihe erhält dadurch, dass sie als Vergleichsklasse vom Kritiker gewählt wird, ein subjektives Moment.
Funktionsorientiertes Urteil: Dem Werk wird unterstellt, dass es beim Rezipienten eine Zustandsveränderung auslöse, deren Beurteilung als gut oder schlecht, erwünscht oder unerwünscht wird Maßstab der Wertung.
Gründe für die Uneinigkeit bei literarischen Wertungen:[2]
- divergierende Zuschreibungen von Textmerkmalen (auch Interpretationen des Textes oder bestimmter Textteile)
- divergierende Wertungskriterien (Wertungen, die von Axiomen ausgehen)
- divergierende Verwendungsweisen der Begriffe, die die Kriterien bezeichnen
- divergierende Hierarchisierung und Kombination der Wertungskriterien
- divergierende Wirkungen des Textes auf das wertende Subjekt
Kriterien[3]
Formale
Vieldeutigkeit – Eindeutigkeit; Offenheit – Geschlossenheit; Schönheit – Hässlichkeit; Stimmigkeit; Komplexität – Einfachheit; Intensität, Dichte; Ganzheit – Fragment
Inhaltliche
Wahrheit; Moralität; Gerechtigkeit; Humanität; Gesellschafts- und Kulturkritik
Relationale
Abweichung, Normbruch; Originalität, Neuheit; Innovation – Tradition; Kitsch; Fortschritt, Emanzipation; Realismus, Wirklichkeitsnähe; Authentizität; Zeitgemäßheit, dokumentarischer Wert; Aktualität
Wirkungsbezogene
Erkenntnisbedeutsamkeit; Reflexion; Entautomatisierung, Revision von Vorurteilen; Lebensbedeutsamkeit; Betroffenheit; Handlungsorientierung; Sinnstiftung; Rührung; Mitleid; Trost; Identifikation – Distanz; Lust – Unlust; Unterhaltung – Langeweile; Spannung – Ruhe, Harmonie; sinnliche Befriedigung; Grauen; Gesundheit – Krankheit
Gesellschaftliche
Nützlichkeit, ökonomischer Wert; Prestigewert
Hans-Dieter Gelfert arbeitet mit den, seiner Meinung nach, am häufigsten vorkommenden Kriterien: Vollkommenheit, Stimmigkeit, Expressivität, Welthaltigkeit, Allgemeingültigkeit, Interessantheit, Originalität, Komplexität, Ambiguität, Authentizität, Widerständigkeit, Grenzüberschreitung, Das gewisse Etwas.[4]
Alle diese Maßstäbe werden je nach Zeit, kulturellem Kontext und subjektiver Haltung anders gehandhabt. Die Begriffe „Trivialität“ und „Kitsch“ haben eigene, komplexe Diskussionen ausgelöst, die am Besten von diesen Stichwörtern aufgerollt werden können.
Grundsätzlich stellt sich die Frage, wer aufgrund welcher Qualifikation oder Legitimation die gerade geltenden Kriterien definiert und für gültig erklärt.
[1] nach: Michael Kienecker (1989): Prinzipien literarischer Wertung. Göttingen
[2] aus: Thomas Anz (1990): Literaturkritisches Argumentationsverhalten. In: Wilfried Barner, (Hg.):Literaturkritik – Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposion. Stuttgart.
[3] nach: Oliver Pohlmann (2008): Literarische Wertung. Hollfeld.
[4] In: Hans.Dieter Gelfert (2010): Was ist gute Literatur? München.