Science-Fiction Autor Gert Prokop
Gert Prokop Foto: Verlag Edition Ost

Über Bücher

Gert Prokop – Doktor Watson als Computer

Manchmal ist es ein ganz besonderes Erlebnis, Science Fiction zu lesen, die schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat. Richtig spannend wird es, wenn es sich um Kriminalgeschichten handelt. Aber damit noch nicht genug: Die Science-Fiction-Krimis von Gert Prokop sind 1977 in der DDR erschienen. Daraus ergibt sich ein ganz spezieller hermeneutischen Twist, ja, ein Doppeltwist.

Timothy Truckle, der beste Privatdetektiv des ganzen Landes, ermittelt in Chicago am Ende des 21. Jahrhunderts. Die USA sind eine kapitalistische Dystopie. Beherrscht wird das Land von den Big-Bossen und ihren Trusts. Die Privilegierten leben in Wolkenkratzern oberhalb der Smoggrenze oder auf Landgütern mit einem extra für sie blau gefärbten Himmel. Die staatliche Überwachung ist allgegenwärtig, Grundnahrungsmittel sind knapp, selbst das Wasser ist rationiert.

Kritik am real existierenden Sozialismus

Sie ahnen es schon. Gert Prokop hat nicht nur eine nahe Zukunft und Kriminalfälle konstruiert, er war auch ein gerissener Kritiker des real existierenden Sozialismus. Denn hinter diesen Missständen könnten sich einfache semantische Verschiebung verstecken: Zweitakt- und Braukohlemief, die Mangelwirtschaft, die Stasi und die Jagdgesellschaften der Partei. Das scheint den Verantwortlichen für die Druckfreigabe irgendwie entgangen zu sein. Sie stellten in den folgenden Jahren für die Neuauflagen dieses Bestsellers und seiner Fortsetzungen immer wieder Papier zur Verfügung.

Doch ganz so einfach lässt sich der 1932 geborene und 1994 verstorbene Autor nicht festlegen. Die heute fast unheimlich wirkenden Sätze des fiktiven Herausgebers in der Geschichtensammlung „Wer stiehlt schon Unterschenkel“ zeigt, wie weiträumig Prokop dachte. 

„So reiste ich in die UNITED STATES oder, wie man sie dort zumeist nennt, die NIGHTED STATES … Wie diese Verballhornung entstanden ist, habe ich nicht herausgefunden. Die einen sagen, sie sei nach dem Abfall der südlichen Staaten aufgekommen … andere erklärten es so, dass die Gegensätze im Land derart groß geworden seien, dass nichts sie mehr vereinen könne.“ 

Die gegenwärtige Verdunkelung der Aufklärung, Verschwörungstheorien und Fake-News lassen grüßen. Dass die Zukunft von „Orkanen und Staubregen“ geprägt sein würde, war hingegen seit 1972 absehbar. Damals erschien „Die Grenzen des Wachstums“.

Kein Action-Held, eher ein Genie

Der kleinwüchsige Privatdetektiv Timothy Truckle ist kein Action-Held, er tendiert eher zum Genie und zur wissenschaftlichen Detektion wie die Scharfsinnshelden Auguste Dupin und Sherlock Holmes. Mit Hercule Poirot verbindet ihn die Liebe zum guten Leben, aber auch Robin Hood ist ihm nicht fern. Denn was Tiny Truckle den Reichen trickreich abluchst, leitet er weiter an die Armen und eine subversive Organisation.

Wenn es sich einrichten lässt, bleibt er in seinem Appartement der Preisstufe Super in der 827. Etage des Nebraska-Towers und lenkt seine Nachforschungen mittels Videokonferenz. Vor seinem abhörsicheren Raum und seinen Verschlüsselungen kapituliert selbst die NSA. Sein Doktor Watson heißt Napoleon, ist ein Computer, leistet 17 Megadat und kann sich bei Bedarf mit anderen Rechnern vernetzen. Er greift auf Quellen zurück, die wir heute Wikipedia, Suchmaschine, das Hacken oder Algorithmen nennen. Mit Napoleon diskutiert Tiny Truckle auch seine eigentlich unlösbaren Fälle. Wenn dem Detektiv das arrogante Oxford-Englisch seines alles besser wissenden Sidekicks auf die Nerven geht, stellt er ihn kurzerhand auf „drucken“ um.

Tinys Aufträge haben immer etwas mit den Strukturen und Institutionen einer von Privilegien, Ausbeutung und Ungleichheit zerfressenen Gesellschaft zu tun. Vielleicht verfällt er deshalb ab und zu in den Hardboiled-Slang der amerikanischen Klassiker: „Haben Sie nicht ein paar Tabletten gegen Übelkeit?“, fragt er den Chef des Public Healtfare Edward Paddington. „Mir ist ziemlich oft zum Kotzen.“

Truckles Gegner sind meist verrückte Wissenschaftler. Einer von ihnen will künstliche Intelligenzen kreativ machen, indem er für sie die Seelen von Menschen downloaded, ein anderer züchtet Zwillinge, um ein Sicherheitssystem auszutricksen. Für Spannung sorgen nicht nur die Rätsel, die der Leser an der Seite des Detektivs lösen muss, sondern auch die Themen, die in die Rätsel integriert sind. Was für Gefühle hat der Teenager Sammy, ein entlaufener gentechnisch veränderter Junge, der für militärische Zwecke gezüchtet und ausgebildet wurde? Warum ist er geflohen und wie wird Truckle, der ihn im Auftrag der Regierung wiederfinden soll, den komplexen ethischen Fragen dieses monströsen Auftrages gerecht?

Wie aus den Folterkellern der Stasi

In der Titelgeschichte ermittelt Tiny für Edward Paddingtons öffentlichen Gesundheitsdienst. Natürlich umsonst, denn „es gibt einen starken Druck, auch noch die letzten Kliniken zu privatisieren“. Ist das ein Motiv für den absurd anmutenden Unterschenkeldiebstahl? Nein, es ist wesentlich mehr: Auf der einen Seite Gesellschaftskritik, auf der anderen ein Köder für die Zensur und ein Beispiel dafür, dass die Autorinnen und Autoren in der DDR darüber reflektierten, wie ihre Leser bestimmte Anspielungen verstehen könnten und wie wohl die staatlichen Kontrollinstanzen darauf reagieren würden. Ein Meisterstück dieser Überlegungen ist „Spiel auf Leben und Tod“. Timothy Truckle wird in die Folterkeller der NSA verschleppt und tagelang verhört. Die hier geschilderten Verhöre stehen Huxleys „1984“ und Burgess „Uhrwerk Orange“ in nichts nach. Noch heute stockt einem angesichts von Prokops Kaltblütigkeit der Atem. Hier geht es ganz offensichtlich um eine Darstellung der Stasi, ihres Psychoterrors und des anschließenden Versuches den subversiven Detektiv zum informellen Mitarbeiter umzukrempeln.

Die Überlegungen, welche Gewinne oder Verluste auf bestimmte Äußerungen folgen könnten, führten zu einer permanenten Auslotung der Spielräume für literarische Experimente. Die Science-Fiction-Krimis von Gert Prokop sind ein beeindruckendes Beispiel dafür. Der Autor ist nicht nur ein gewiefter Gesellschaftskritiker, sein Entwurf des 21. Jahrhunderts ist hellsichtig, die Kriminalfälle funktionieren präzise wie Schweizer Uhrwerke und sind aufgrund der ausgefeilten Dialoge auch ohne Serienmorde mehr als packend. Ihre Mehrdeutigkeit, Komik und ihre Sprache sind gemessen an dem, was sonst in diesem Genre üblich ist, eine Wohltat. Nicht nur den Weltentwurf in Marc-Uwe Klings „Qualityland“ steckt Prokops Science Fiction locker in die Tasche, auch das, was sich heute selbstgefällig als sozialkritischer Krimi oder gar als neuer Gesellschaftsroman ausgibt, sieht verglichen mit diesen vor fast einem halben Jahrhundert erstmals erschienenen Geschichten ziemlich alt aus. 

Gert Prokop (1977): Wer stiehlt schon Unterschenkel? Kriminalgeschichten aus dem 21. Jahrhundert. Verlag das Neue Berlin. Dort erscheinen aktuell neun Bücher von Gert Prokop.
Die neun Fälle des jugendlichen „Detektiv Pinky“ gibt es als Buch nur antiquarisch, als E-Book bei Beltz.

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