Poetikon

Wenn Erzähler:innen alles wissen /

Der Bürgermeister erkennt mich wieder und ruft mich zu sich. Ein junger Mensch, groß, plump und dick, mit einem Schopf schwarzer, eingefetteter Haare, die ihm unordentlich in die Stirn fallen, einem gelben, bartlosen Mondgesicht mit kleinen boshaften Äuglein voller Falschheit und Zufriedenheit. Er trägt hohe Stiefel, karierte Reithosen, eine kurze Jacke und spielt mit einer Reitpeitsche.

Diese Figurenbeschreibung von Carlo Levi ist eindeutig. Mit dieser Person haben es der Ich-Erzähler und die Leser:innen von jetzt an zu tun. In „Christus kam nur bis Eboli“ berichtet Levi von seiner Verbannung. Hauptfigur und Erzähler sind identisch. Eigentlich erwartet man in einer Ich-Situation mit persönlichem Erzähler heute keine „Allwissenheit“ mehr. Doch Levis kurze Beschreibung deutet schon vom Äußeren unmissverständlich auf den Charakter und die erst später ausführlich beschriebene Haltung des Bürgermeisters gegenüber den Mitmenschen und der Welt hin. Mit fast allen Figuren seiner Erzählung verfährt Levi so. Manchmal braucht er nur einen Absatz dafür, bei komplexeren und verwinkelten Charakteren umfasst die Beschreibung einige Seiten. Der Erzähler überblickt Raum, Zeit, die gesellschaftlichen Verhältnisse, das Begehren und die persönlichen Verstrickungen der Personen. Die Klarheit, mit der er sie einordnet, ist frei von jedem Zweifel. Ein auktoriales Erzählverhalten in der Ich-Form.

Der Literaturkritiker James Wood zitiert in „Die Kunst des Erzählens“ den Autor W. G. Sebald. Der ist der Meinung, dass Erzähler, die sich als Bühnenbildner, Spielleiter oder Richter und Vollstrecker einsetzen, im 20. Jahrhundert nicht mehr haltbar sind. „Bei Jane Austen“, fährt Sebald fort, „bezieht man sich auf eine Welt in der bestimmte Regeln der Schicklichkeit von jedem respektiert werden. In einer Welt, in der es klare Regeln gibt und jeder weiß, wo deren Übertretung beginnt, halte ich es für legitim – in einem solchen Kontext –, ein Erzähler zu sein, der die Regeln kennt und auf bestimmte Fragen die Antworten weiß. Ich glaube aber, solche Gewissheiten sind uns im Laufe der Geschichte genommen worden; wir müssen nun unser Gefühl der Unwissenheit und Unzulänglichkeit in diesen Dingen eingestehen und deshalb so auch zu schreiben versuchen.“

Bei Carlo Levi ist davon nichts zu spüren. Die Ursache dürfte der Faschismus sein, ein Kontext, in dem wieder klare Regeln herrschen. Auch wenn diese sich aus einer Mischung von Willkür und Gewalt ergeben. Doch gerade weil diese „Regeln“ nicht von allen respektiert werden, ergeben sich daraus neue Gewissheiten. Und für Levi ein Spektrum von Figuren, die diese Schrecklichkeit repräsentieren, an sie glauben, sie propagieren, von ihr profitieren, sich ihr unterwerfen, mitmachen und mitlaufen. Denen gegenüber stehen diejenigen, die sich verstellen, darunter leiden, sich verstecken, fliehen oder wie Carlo Levi ans Ende Italiens verbannt werden.

Levi weiß, wo die Übertretung der ausgesprochenen oder stillschweigend vorausgesetzten Regeln beginnt. Die Haltung gegenüber den Personen, die diese Regeln vertreten oder damit konfrontiert sind, legitimiert die Auktorialität seiner Erzählung: Kein Gefühl der Unwissenheit, kein Eingeständnis der Unzulänglichkeit, sondern Gewissheit um die eigene Stellung in der Gesellschaft und die Positionen der Anderen.

Carlo Levi (1945): Christus kam nur bis Eboli. München, dtv
James Wood (2011): Die Kunst des Erzählens. Reinbeck, Rowohlt

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