Alltage

Ohne Wahrheit leben /

Am siebten Oktober ist ein Interview mit Daniel Kehlmann in der Süddeutschen Zeitung erschienen. Darin spricht er über seinen neuen Roman. Hauptfigur ist ein Regisseur, der während der NS-Zeit in Deutschland Filme drehte. Das Interview kreist um die Frage, wo Opportunismus beginnt.

Kehlmann beschreibt den fließenden Übergang vom moralisch integren Menschen zum Opportunisten so: „Ich glaube, dass es möglich ist, viele kleine Schritte zu machen, von denen jeder für sich vertretbar scheint. Aber insgesamt führt der Weg dann doch in ein Gelände, in dem man sich nicht aufhalten sollte.“

Doch Diktatur ist nicht gleich Diktatur. Die zwölf Jahre Nazi-Herrschaft haben eine andere Qualität als vierzig Jahre DDR. Über den längeren Zeitraum verändere sich das Verhältnis zur Wahrheit. Gebe es anfangs noch die Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Wahrheit, löse sich diese mit den Jahren auf. Es sei eher so, „dass die Menschen ganz ohne Wahrheit leben und gar keinen eigenen Wahrheitsbegriff mehr haben, den sie der offiziellen Propaganda entgegenhalten könnten.“

Vielleicht lassen sich Daniel Kehlmanns Überlegungen auch auf andere Phänomene anwenden. Die moralischen Kategorien bleiben die gleichen: gut und schlecht, richtig und falsch. Auf den Klimawandel ließe sich das so übertragen: Seit gut fünfzig Jahren wissen die meisten Menschen in den Industriestaaten, was sie durch ihr Handeln auslösen. Welches waren die kleinen Schritte, die jeder für sich vertretbar erschienen, aber dann doch in ein Gelände geführt haben, in dem man sich nicht aufhalten sollte? Welche Rolle spielt bei den vielen kleinen Schritten das Verhältnis zur Wahrheit? Gab es die Möglichkeit zu wählen? Oder gab es sie nicht? Und was verbindet die Antwort auf diese Frage jetzt, da man sich mitten in dem Gelände befindet, in dem man nicht sein sollte, mit der zunehmenden Tendenz, zu leugnen, was wahr ist? 

Ein Kommentar

  1. Erst kommt das Fressen dann kommt die Moral. Naturgrundgesetz. Seit 50 Jahren wissen die Menschen…, wir bräuchten doch jetzt nur aufs Wohnen verzichten, auf Erholung, zur Arbeit fahren… Und? Tun sie es?
    Das ist das Übel, sie sehen es nicht ein. Dafür gibt es, o Glück, die Intellektuellen.
    Den Nazifaschismus kann man ebensowenig mit dem Begriff der Kollektivschuld verstehen wie die Klimakatastrophe. Die Menschen wissen doch seit gut 50 Jahren….

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