Am Kipppunkt des Erzählens /
Vielleicht klingt der Titel des Buches etwas alarmistisch: „Die Krise der Narration“. Krise ist ja gerade überall. Trotzdem dürften die Überlegungen des Kulturwissenschaftlers und Philosophen Byung-Chul Han für alle, die sich mit dem Thema „Erzählen“ beschäftigen, interessant sein. Han verhandelt die Fragen, warum wir erzählen und welche Funktionen das Erzählen hat. Es geht also nicht um Anleitungen zu unterhaltsamen Geschichten, einem spannenden Plot oder den Aufbau einer erfolgversprechenden Story, wie sie in den gängigen Schreibanleitungen unter dem Begriff „Handwerk des Erzählens“ seit Jahren durchgekaut werden.
Ausweg aus dem existenzialistischen Nichts
Han entwirft in zehn kurzen Kapiteln eine Philosophie des Erzählens. Der Mensch erzählt. Und aus dem Dasein wird eine Geschichte, ein Leben, eine Identität. Denn das Erzählen erzeugt nicht nur Kohäsion zwischen mehr oder weniger zufälligen Ereignissen, in ihm liegt auch die Möglichkeit, dem existenzialistischen Nichts etwas entgegenzuhalten. Indem wir unser Leben in Erzählform wahrnehmen, erscheint die Welt rhythmisch gegliedert. „Dinge und Ereignisse sind nicht für sich isoliert. Vielmehr sind sie Erzählungsglieder.“ Das nackte In-der-Welt-Sein verwandelt sich in ein Zu-Hause-Sein. Auch Erinnerungen haben eine narrative Struktur.
„Aufgrund fehlender Außenorientierung, aufgrund fehlender narrativer Verankerung im Sein hat von dem Selbst die Kraft auszugehen, die Zeitspanne zwischen Geburt und Tod zu einer lebendigen Einheit zu kontrahieren, die alle Ereignisse und Begebenheiten durchdringt und umspannt.“
Byung-Chul Han
So entsteht in einer beschleunigten, verflüssigten, kaum noch fassbaren Welt eine zeitliche Rahmung der Existenz. „Sie hat dafür zu sorgen, dass das Dasein als eine pränarrative Einheit nicht zu Momentanwirklichkeiten von nacheinanderkommenden und verschwindenden Erlebnissen zerfällt.“ Diese narrative und zeitliche Rahmung verankert das haltlose Dasein in der „Einfachheit seines Schicksals“.
Grund eins für die Krise – die informative Dauerkommunikation
Zudem habe das Erzählen eine wichtige gemeinschaftsbildende und heilende Funktion. Auch große wissenschaftliche Theorien weisen nach Han narrativen Charakter auf. Vielleicht ist es dann doch adäquat, von einer Krise zu sprechen. Wenn das Erzählen aus unserem Leben verschwindet, verschwindet auch das Leben, wie wir es bisher kennen. Die Ursachen dafür sind schon angeklungen. Zur modernen Beschleunigung und postmodernen Verflüssigung kommt laut Han die informative Dauerkommunikation. Denn mit der Menge der Informationen nimmt die Kontingenzerfahrung zu. Soziale Medien verschärfen den Eindruck der Zufällig- und Sinnlosigkeit, denn deren Inhalte haben selten erzählenden Charakter, sondern sind in der Regel Informationen. Und jede aktuelle Information wird sofort durch eine noch aktuellere abgelöst. Sinn ergibt das nicht.
Grund zwei – das Storytelling
Eine andere Ursache für die Krise der Narration sei das Storytelling, das von der Werbung auf alle Lebensbereiche übergreift. Individuen, die sich als Marke inszenieren, betreiben Storyselling. Selbstdarstellung und die Aufwertung von Produkten durch Geschichten hat nach Han aber keine narrative Qualität. Wie und warum aus dem Erzählen „Storyselling“ wurde, hat Naomi Klein in „No Logo!“ (2000) ausführlich beschrieben.
Mit seinen Reflexionen nähert sich Han nicht nur einem Problem, er erklärt indirekt auch, warum Menschen erzählen, Geschichten schreiben und lesen: um nicht nur da zu sein, sondern um sich zu Hause zu fühlen. Ein Grund, Literatur zu schreiben, liegt demnach darin, die Welt oder das eigene Leben in etwas zu transformieren, das Sinn ergibt. Doch Sinn ist nicht gleich Sinn. In der Literatur reicht die Spannweite von trivialen Fluchtwelten über Selbstbestätigungen bis zu eher verstörenden Sinnangeboten.
Was ist ein narrativer Text?
Bei der Lektüre hat sich für mich zudem folgende Frage ergeben: Wenn Information und Erzählung strukturell entgegengesetzte Modi der Kommunikation sind, ist dann ein Text, der als Erzählung gedacht ist, aber in erster Linie dazu dient, Informationen zu vermitteln, noch ein narrativer Text? Zum Beispiel: Einer dieser vielen Tatorte, die ein gesellschaftlich relevantes Thema aufgreifen und es in eine Krimihandlung verpacken. Dafür wird ein Thema aus den Nachrichten in eine Handlung umgegossen. Die Figuren dienen der Illustration. Die Handlung besteht aus didaktischen Dialogen. Wo verläuft da die Grenze? Gibt es so etwas, wie den Kipppunkt einer Erzählung, an dem das, was als Erzählung gedacht ist, etwas anderes wird?
Byung-Chul Han (2023): Die Krise der Narration. Berlin.