Cover Bilderbuch Struwwelpeter
Struwwelpeter

Poetikon

Struwwelpeter – zwischen Essstörung und Rassismus /

Seit einigen Jahren nehme ich an einer Universität mündliche Prüfungen ab. Ein Thema ist die historische Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur. Als eines der ersten Bilderbücher gilt der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann aus dem Jahr 1844. Das Buch ist auf der ganzen Welt bekannt. Es richtet sich gleichzeitig an Erwachsene und Kinder. Die Kinder, heißt es, werden mit Warngeschichten angesprochen, die biedermeierlichen Eltern mit der parodistischen Ausführung.

Das Kindheitsbild von Hoffmann unterscheidet sich von dem der Aufklärung oder Romantik. Im Zeitalter der Aufklärung sollten Kinder zu selbständigen, vernünftigen und nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden. Die Romantik warf diese Erziehung über den Haufen, denn das Kind galt als göttliches Wesen, das in erster Linie sich selbst und seine Phantasie entfalten sollte.

Die Kinder bei Hoffmann haben auf den ersten Blick nicht viel Göttliches. Eher scheinen sie mit den beiden Anarchisten Max und Moritz verwandt zu sein. Zahm sind Hoffmanns Kinder nicht, es geht teilweise pathologisch zu. Der böse Friederich ist aggressiv, Hans-Guck-in-die-Luft ist stark verträumt, der Zappel-Philipp hat vielleicht ADHS und der Suppenkasper protestiert gegen die Biedermeierzeit mit einer Essstörung. Paulinchen findet die Streichhölzer, die die Eltern liegen ließen und spielt mit dem Feuer. Ein breites Spektrum von Verhaltensweisen, deren Ursachen im Dunkeln liegen. Die Bilder sind krass und wenn es Strafen gibt, sind diese schockierend. Das hat dem Struwwelpeter den Vorwurf der Schwarzen Pädagogik eingebracht. 

Auch wenn diese Kinder unerziehbar erschienen, versucht es der Psychiater Hoffmann doch. Vielleicht ist sein Bilderbuch als paradoxe Intervention an die Kinder gerichtet, mit Übertreibungen, die auf deren Wildheit verweisen. Eine Wildheit, die die jungen Leser:innen begeistern und gleichzeitig schockieren könnte. Gleichzeitig wird die Ordnung der Eltern gesprengt. Doch diese Anarchie hat Konsequenzen. Hans und Kasper sind blöd, die Rassisten Ludwig, Kasper und Wilhelm werden mit ihren eigenen Waffen geschlagen und merken es nicht einmal. Vielleicht traut Heinrich Hoffmann, seinen kleinen Leserinnen und Leser mehr zu, als man denkt. Nämlich, dass sie die eigenen Dummheiten und deren Lächerlichkeit selbst erkennen. Vielleicht spricht aus diesem Buch ein großes Vertrauen in das Erkenntnisvermögen der Kinder.

Ein Kommentar

  1. Das sehe ich ähnlich.
    Aus eigener kindlicher Erfahrung und Erinnerung weiß ich, dass ich trotz notorischer Essensvergeigerung niemals dachte, ich würde „so dünn als wie ein Fädchen“ und wäre daher auch nicht „am fünften Tage tot“. Robert habe ich ein bisschen beneidet, fliegen mit Schirm schien recht attraktiv, Friedrich wurde m.E. zurecht gebissen, die Sache mit dem armen Konrad fand ich abstoßend, aber auch völlig unglaubwürdig… kurzum, für mich als Kind waren die Stuwwelpeter-Kapitel mehr oder weniger drastische Geschichten, mehr nicht. Einzig Paulinchen habe ich ernst genommen und, soweit ich weiß, nie mit Streichhölzern gespielt.
    Meiner Tochter habe ich Struwwelpeter trotzdem nicht vorgelesen und gezeigt.

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