Heinrich Heine
Heinrich Heine ©GeorgiosArt/ Fotosearch

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Reisen in der Literatur – von Odysseus bis Heinrich Heine /

Goethe, Seume und Heine, alle bereisten die Welt, aber auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Heinrich Heine wanderte vor 200 Jahren durch den Harz und schrieb danach die erste Satire auf den modernen Tourismus.

Von der Reise zum Urlaub

Das Reisen ist ein universelles literarisches Motiv. In unserem metaphorischen Denken ist die Reise sogar ein Bild für das Leben. Der Lebensweg oder etwas dynamischer der Lebenslauf, die Karriere oder Laufbahn machen aus einem schwer zu verstehenden Phänomen wie der Zeit einen erfahrbaren Raum. Und diesen Raum kann man mit allen möglichen Werten füllen. Ein Leben ist nicht einfach ein Leben, es kann gelingen oder scheitern. Was als Fortschritt und wünschenswert gilt, ändert sich allerdings mit den Zeiten und den Diskursen. Antike Helden sahen sich vor ganz andere Probleme gestellt als mittelalterliche Ritter, Handel treibende Bürger, Künstler, Handwerker, Proletarier oder Kleinbürger. Geistes- und sozialgeschichtliche Strömungen wie die Aufklärung und Romantik, aber auch die Industrialisierung oder die Klimakrise bilden jeweils einen anderen Rahmen für das Bild vom Reisen und das Schreiben darüber.

Odysseus chaotische Irrfahrt

Ein Prototyp der literarischen Reise ist die Odyssee, eine unfreiwillige, königliche, eher chaotische Irrfahrt, die auch das Vorbild für die ritterliche Aventüre abgab. Tatsächlich hat es Handelsreisende, wandernde Handwerker, Wissenschaftler und Künstler wohl schon in der Bronzezeit gegeben. Eines hatten das reale und fiktive Reisen aber gemeinsam, es war ein Abenteuer. Das hat sich tief in die Sprache eingeschrieben. „Gefahr“ kommt von „fahren“. Wer es ruhig haben wollte, blieb lieber zuhause.

Mit einer neuen Infrastruktur wurden diese Gefahren kalkulierbarer. Die für Kutschen geebneten Wege mit bequemen Poststationen führten überall hin – zum Beispiel nach Rom, Bologna, Pisa oder Padua. Städte, die junge Adlige für ihre ihre Grand Tour bevorzugten, weil in ihnen Wissenschaft und Kultur blühten. Ihre Reise diente der Ausbildung und dem Netzwerken. Als wegweisende Reiseziele folgten auf Italien die Niederlande, Frankreich, England und dann die USA.

Das Unterwegssein als lästige Komponente der Reise

Spätestens mit der Eisenbahn wurde das Unterwegssein – eine nicht ganz unwichtige Komponente der Reise – zu einem lästigen, unerwünschten Zustand. Geht es doch jetzt darum, möglichst schnell irgendwo anzukommen. Im transitorischen Raum des Bahnhofs entstehen Buchhandlungen. Dort deckt man sich mit Lektüren ein, um die Reisezeit mit einer sinnvollen oder unterhaltsamen Tätigkeit zu überbrücken. Mit dem Auto entwickelt sich parallel dazu eine flexiblere Form. Die Straße gehört dem Individuum, das Auto ist eine Fortsetzung der Privatsphäre mit technischen Mitteln. Und Straßen sind keine Schienen, Autos brauchen keine Flughäfen. Ein Road Movie ist etwas völlig anderes als eine Reise im Orient Express. 

So wie sich die Gesellschaften und Verkehrsmittel demokratisierten, setzte sich das Reisen als ein Massenphänomen durch. Neben den speziellen oft mühevollen Entdeckungs-, Eroberungs- und Forschungseisen etablierte sich im Bürgertum bald die komfortable Bildungsreise. Man ahmte den Adel nach und erhob den eigenen Status zu dem eines Bildungsbürgers.

Wie alle Märkte fächert sich auch die Reise als Produkt entlang der immer fortschrittlicheren Fortbewegungsarten weiter auf. Das Medium ist bekanntlich die Botschaft. Aus Reise wird Urlaub und das, was man unter Urlaub versteht, hat oft nur noch wenig mit Irrfahrt, Abenteuer und Bildung zu tun. Kreuzfahrten auf stadtgroßen Schiffen sind ein Sinnbild des modernen Tourismus geworden: eine bewegungslose Bewegung, das Gegenteil von all dem, was eine Reise ausmacht. Der „rasende Stillstand“, den Paul Virilio 1990 für eine beschleunigte und digitalisierte Welt beschreibt, erfasst auch den Tourismus im 21. Jahrhundert. 

Homo Faber on the road

Wer heute mit einem Anbieter von Studienfahrten unterwegs ist, bewegt sich auf den Spuren der wohl einflussreichsten deutschsprachigen Reisebeschreibung: Goethes Italienischer Reise (von 1786-1788; erschien erst in Auszügen, komplett 1813-1817). Johann Wolfgang von Goethe lenkt darin den Blick seiner Zeitgenossen auf die Kunst und löst mit seiner Schwärmerei für Architektur, Skulptur und Malerei den damals vorherrschenden Trend zum Naturenthusiasmus ab. Ein folgenreicher Perspektivwechsel, ein Verhaltensmodell, das anfangs für ein privilegiertes Publikum gedacht war, gilt bald als Bildungsstandard für alle: Die Reise hat Horizonterweiterung zu sein und kulturelle Erfahrung.

Gut zehn Jahre nach der Erfindung der Bildungsreise formuliert Goethe in seinem „Wilhelm Meister“ die Bildung als das grundlegende Programm einer bürgerlichen Karriere und schafft damit den Prototypen des Bildungsromans. Mit dem zweiten Teil des Faust macht er den Menschen zudem von einem Viator oder Pellegrino Mundis zum Homo Faber, dessen Weg ohne Verweilen und Atempause der bürgerlichen Leistungsethik und dem Fortschritt folgt. Da er in seinen Italienschilderungen die Begriffe Reise und Bildung fest ineinander verschraubt, wirkt das Bestimmungswort auf das Grundwort zurück. Von nun werden alle Arten von Reisen pauschal gern als bildend angesehen.

Während Goethe als Ziel eine noble und ideale Antike entwirft, demonstriert er immer wieder eine eigentümliche Haltung. Auf fleißige Schilderungen, die voll sind von Lob für Größe, Tüchtigkeit und göttliches Können, folgt oft ein Satz mit „aber“. 

Schön, aber heruntergekommen; tüchtig, aber am falschen Ort; vornehm, aber verglichen mit der Baukunst der unsrigen … Von einem hohem Menschen erdacht, sieht aber,

„wie sie schon durch das enge, schmutzige Bedürfnis der Menschen entstellt sind … Wie wenig diese köstlichen Denkmale eines hohen Menschengeistes zu dem Leben der übrigen passen, so fällt einem denn doch ein, daß es in allem andern ebenso ist; denn man verdient wenig Dank von den Menschen, wenn man ihr inneres Bedürfnis erhöhen, ihnen eine große Idee von ihnen selbst geben, ihnen das Herrliche eines wahren, edlen Daseins zum Gefühl bringen will.“

So erschreibt sich der Hüter des Guten, Wahren, Schönen mit seinem objektiv anmutenden aber von sentenzenhaften Verallgemeinerungen durchzogen Bericht einen gehörigen Distinktionsgewinn. Nicht nur als unpolitischer Bürger, dessen Lebensweg bis zum „Adelsdiplom“ geführt hat, sondern letztlich auch als deutscher Großerklärer, der den Italienern erst mal verklickern muss, was die Antike überhaupt bedeutet. 

Johann Gottfried Seumes groß angelegte Sozialreportage

Aus einem anderen Holz ist Johann Gottfried Seume geschnitzt. In seinem „Spaziergang nach Syrakus“ (1802, erschienen 1803) wirft er einen ganz anderen Blick auf die Welt und Italien. Ihm geht es nicht um eine weitere Beschreibung bekannter Kultstätten, er versucht das alltägliche Leben realistisch zu erfassen. Abseits der Grand Tour beobachtet er Land und Leute. Heute würde man von einer groß angelegten Sozialreportage sprechen. Kaum auszudenken, mit welchen Augen Generationen von Reisenden durch die Welt gegangen wären, hätte Seumes als subjektive Erfahrung verpackte Reisebeschreibung eine ähnliche Wirkung entfaltet wie die von Goethe.

Das aufklärerische Programm des Marathonwanderers spiegelt sich in seiner Überlegungen zum Reisen aus dem Jahr 1806:

„Ich bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. (…) Wo alles zuviel fährt, geht alles sehr schlecht; man sehe sich nur um! So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll; man thut notwendig zuviel, oder zu wenig. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.“

Nicht nur an den zahlreichen Zollstationen stößt Seume an die Grenzen der Freiheit, auch im Theater, bei Begegnungen mit Justiz und Politik. Sein im Ton einer Erzählung gehaltener Bericht ist durchzogen von ironischen Hinweisen auf Zensur, Überwachung und Unterdrückung. Unhöflich sind nicht nur die Polizisten, auch das überall herumlungernde Militär legt immer wieder philisterhafte Grobheiten an den Tag und die allgemeine Not und Ungleichheit zwingt viele dazu, die gefährliche Karriere als Räuber und Gauner einzuschlagen. 

Trautes Heim, Glück allein

Eine Restauration später ist selbst Seumes verhaltene Kritik an den politischen Verhältnissen so kaum noch möglich. Zudem ist, als sich Heinrich Heine 1824 auf eine Wanderung durch den Harz begibt, Romantik gefragt. Oberflächlich eine Rückkehr zum Naheliegenden und zur Natur, aber die Natur ist hier immer auch die Chiffre für eine ersehnte Freiheit. Die verschärfte Zensur, eine von Fürst Metternichs Repressionen, soll französischen Zuständen vorbeugen. Dieser historische Hintergrund spiegelt sich in Heines „Harzreise“. Was aussieht wie ein lustiger Spaziergang durch die Wälder, ist tatsächlich ein politischer Text, dessen geheimer Bezugspunkt weder die Natur noch die Kunst ist, sondern die restaurativen Verhältnisse nach der französischen Revolution und Napoleon. Wo Goethe vornehm schweigt und Seume noch auf bessere Zeiten hoffen kann, bleiben Heine, in einem Land, in dem die Uhren schon wieder rückwärts laufen, nur noch Scharfsinn, Ironie und Spott. 

Im Harz hinter Goslar trifft der romantische Wanderer einen wohlgenährten Bürger:

„Ein glänzend wampiges dummkluges Gesicht … Er machte mich auch aufmerksam auf die Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit der Natur. Die Bäume sind grün, weil grün gut für die Augen ist. Ich gab ihm recht und fügte hinzu, daß Gott das Rindvieh erschaffen, weil Fleischsuppen den Menschen stärken, daß er die Esel erschaffen, damit sie dem Menschen zu Vergleichungen dienen können, und daß er den Menschen selbst erschaffen, damit er Fleischsuppen essen und kein Esel sein soll. Mein Begleiter war entzückt einen Gleichgesinnten gefunden zu haben … Solange er neben mir ging, war gleichsam die ganze Natur entzaubert, sobald er aber fort war, fingen die Bäume wieder an zu sprechen, und die Sonnenstrahlen erklangen, und die Wiesenblümchen tanzten, und der blaue Himmel umarmte die grüne Erde. Ja, ich weiß es besser: Gott hat den Menschen erschaffen, damit er die Herrlichkeit der Welt bewundert.“

In dieser kleinen Begegnung klingen verschiedene Themen an. Der wohlgenährte Bürger repräsentiert einen von denen, die vor lauter Bäumen keinen Wald sehen, sondern nur Festmeter Holz, und damit einer Zweckrationalität folgen, die den Menschen und seine ökonomischen Bedürfnisse in die Mitte der Schöpfung stellen. Das romantische Gegenprogramm zu dieser Entzauberung der Welt hat zeitweise etwas esoterische Züge. Heine parodiert auch das. Sein Schreiben ist romantisch und Kritik an der Romantik zugleich. So zielen seine Anekdoten zur Senkung der Arbeitsmoral nicht auf eine blaublumige Rückverzauberung, der Realist Heine ist an Freiheit und Sinnlichkeit interessiert, an der Erhaltung einer Lebensfreude, die jeder und jedem zusteht. Dass er dafür ein „Reisebild“ wählt, ist kein Zufall. Im Vormärz galt Reisen als Symbol für die allgemeine Aufbruchsstimmung. Der Philister hingegen, der im trauten Heim hockte oder der Gelehrte in seiner Stube, waren die Sinnbilder für gesellschaftlichen und geistigen Stillstand.

Pariser Verhältnisse

1831, nach der Julirevolution, geht Heine nach Paris. Er ist es leid, wegen seiner jüdischen Herkunft und politischen Ansichten angefeindet und von der Zensur eingeschränkt zu werden. Die Publikationsverbote 1833 und 1835 machen die französische Hauptstadt schließlich zu seinem Exil. Dort freundet er sich mit Karl Marx an. Zwanzig Jahre nach der Harzreise nimmt er den Faden in den Versen von „Deutschland. Ein Wintermärchen“ wieder auf. Die Ideen von Gleichheit und Brüderlichkeit haben sich in seiner alten Heimat zu einem militanten Nationalismus ausgewachsen und die Freiheit erstickt im Biedermeier eines saturierten Bürgertums. Denkt Heine an Deutschland, ist er um den Schlaf gebracht. Auch lässt er die Weber schon mal das Leichentuch dieser frühkapitalistischen Gesellschaft produzieren. Gut fünfzig Jahre später wird diese graue Epoche aufgrund ihrer netten Häuslichkeit und dem allgemeinen Rückzug in Private zur „guten alten Zeit“ verklärt. Kein Wunder also, dass sich konservative Autoren und Philologen der Kaiserzeit große Mühe geben Heine, den Juden, falschen Romantiker und vaterlandslosen Gesellen aus dem literarischen Kanon zu tilgen. Die Arbeiterbewegung hingegen sieht in einigen von Heines Gedichten „vorzügliche Waffen“. In den Schulen der DDR wurde Heinrich Heines Entwicklung vom Bürger über den Utopisten bis zum Marxisten zu einer „Kollektivbiografie“ umgedeutet, die dazu diente, eine nationale Identität zu konstruieren. 

Über den Harz und über den Harz hinaus

Mit ihren zahlreichen zeitkritischen Bezügen entwirft die Harzreise ein Panorama des frühen 19. Jahrhunderts. Ohne Erklärungen sind ihr Stil und die vielen Anspielungen heute schwer zu verstehen. Zudem schlüpft Heine zeitweise in die Rolle eines Narren, um sein Publikum einerseits mit Unterhaltung zu locken und andererseits gegenüber der Zensur zu verschleiern, dass er auf reflexive und poetische Art eine Alternative zum Bestehenden anbietet.

Mit einer neuartigen Universalpoesie durchbricht Heine in der Harzreise die bisherigen Vorstellungen der gängigen Reisegattungen und erfindet eine Prosa, die noch heute in den Feuilletons nachhallt. Es handelt sich nicht wie bei Goethe oder Seume um eine beschreibende, wissenschaftliche, nicht-fiktionale Reiseliteratur. Heine bastelt aus poetischen, romanhaft-fiktionalen und reflexiven Elementen eine Prosa, die das, was sie poetisiert auch immer politisiert. 

Die kleinteilige, episodische Struktur widerspricht der klassischen Idee eines homogenen Kunstwerks, bietet Heine aber die Möglichkeit, unterschiedliche Themen und Genre assoziativ und kontrastiv als Parodie, Pastiche und Persiflage zusammenzuführen. Diese Art der Montage-Technik, wird erst Anfang des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen. 

Die Harzreise ist vieles, sie ist voll von Seitenhieben auf Zeitgenossen, eine Satire auf die Göttinger Universität, den frühindustriellen Zweckrationalismus, den aufkommenden Nationalismus, die Restauration, den romantisierenden und empfindsamen Literaturbetrieb und nicht zuletzt eine Kritik am einsetzenden Tourismus. Zudem ist Heines erstes von sieben Reisebildern auch eine Parodie auf andere Reisebeschreibungen. Heine nimmt den befreienden Charakter des Wanderns ernst, parodiert aber zugleich die romantische und bürgerliche Vorstellung davon. Und so geht es weiter. Ernst nehmen und parodieren sind eins. Doch der Text erschöpft sich nicht in einer unverbindlichen romantischen Ironie. Trotz all der historischen Bezüge versteht man noch heute ziemlich genau, was der letzte Romantiker Heine meint und welche Ziele er vor genau zweihundert Jahren auf der letzten Reise der Romantik verfolgte.

Heinrich Heine, Reisebilder, Diogenes Verlag
Heinrich Heine, Die Harzreise, Reclam 
Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, dtv
Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus, Suhrkamp Verlag 

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