Cover Ökotopia von Ernest Callenbach
Ökotopia von Ernest Callenbach

Über Bücher

Wo wir zuhause sind /

Ernest Callenbachs Roman „Ökotopia“ aus dem Jahr 1975 /

Stellen Sie sich vor: Hessen und Rheinland-Pfalz spalten sich von Auto- und Glyphosat-Deutschland ab, um einen ökologischen Staat zu gründen. Sie verbieten Verbrennungsmotoren, schaffen ein funktionierendes öffentliches Verkehrsnetz, stellen die Landwirtschaft um, strukturieren die Städte neu, fördern eine nachhaltige und offene Architektur, machen politische Prozesse zugänglich, reduzieren die Ungleichheit, die Arbeitszeit und erhöhen die Arbeitsqualität, reformieren das Bildungssystem und haben nach gut zwanzig Jahren ein Gemeinwesen geschaffen, in dem man gut und frei und ökologisch lebt.

Gar nicht so einfach, sich so ein Ökotopia auszumalen

Der Grund: Unsere Vorstellungskraft wird zur Zeit nicht mit Utopien, sondern mit Dystopien gefüttert. In Film, Literatur und auf dem Theater ist gerade die Darstellung von zerfallenden Gesellschaften und Staaten angesagt. Dystopien, heißt es, seien kritisch, da sie uns vor Augen führen, was passiert, wenn wir nicht aufpassen. Tatsächlich aber sind die meisten dystopischen Darstellungen einfach nur spannende Abenteuergeschichten, in denen irgendwer für das Gute oder um sein Überleben kämpft und am Ende siegt. Die Welt, wie wir sie kennen, ist zwar untergegangen, aber mit den richtigen Waffen kommt man auch im wilden Chaos klar. Das ist das Gegenteil von Kritik und weder die Grundlage für aufrüttelnde Gedanken noch eine Motivation zu vernünftigem Handeln. Die meisten aktuellen dystopischen Erzählungen sind Einübungen in und Gewöhnungen an kommende Krisen. Sie verstellen den Blick auf Alternativen. Tatsächlich sind die meisten davon kein Teil der Lösung, sondern ein Teil des Problems.

Die Utopie ist ein Ort im Nirgendwo

1516 erfand Thomas Morus mit einem Roman den Begriff und das literarische Genre. Sein „wahrhaft goldenes Büchlein, nicht minder heilsam als unterhaltsam, von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia“ entwirft einen vernünftigen Staat. Danach hatte fast jedes Jahrhundert einen berühmten utopischen Roman.

  • Tommaso Campanella: Der Sonnenstaat (1602)
  • Johann Gottfried Schnabel: Die Insel Felsenberg (1731-1741
  • H.G. Wells: Die Zeitmaschine (1895)
  • Alexander Bogdanow: Der rote Stern (1907)
  • Charlotte Perkins Gilman: Herland (1915)
  • Franz Werfel: Stern der Ungeborenen (1946)
  • Aldous Huxley: Island (1962)
  • Ursula K. Le Guin: Die Habenichtse / Freie Geister (1974).

Der letzte große utopische Roman stammt von dem Amerikaner Ernest Callenbach. Er erschien 1975 und hat den Titel „Ökotopia“. Einige westliche US-Staaten haben sich darin 1980 von den USA losgesagt und selbständig gemacht. Im Jahr 1999 darf erstmals ein ost-amerikanischer Journalist über Ökotopia berichten. Der Roman besteht aus William Westons Reportagen und Alltagsnotizen, einer Liebes-, einer Entwicklungsgeschichte und hat das Problem aller utopischer Geschichten. Diese sind in erster Linie Gesellschaftsentwürfe und insofern theorielastig. Im Gegensatz zur Dystopie, dem üblen und schlechten Ort, deren Dramatik schon im Namen sichtbar wird, hat eine Utopie meist keine heftigen Konflikte und wilden Kämpfe zu bieten. Schließlich ist die Welt dort ziemlich in Ordnung. Mit anderen Worten: Es ist wesentlich schwerer, einen unterhaltsamen utopischen Roman zu schreiben, als einen dystopischen. Utopie heute noch genau so aktuell ist, wie in den siebziger Jahren, ist nur schwer zu ertragen.

Utopisches Denken hatte ein schlechtes Image

Zudem hatte das utopische Denken in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein schlechtes Image. Von konservativer Seite wurde „Utopie“ mit Faschismus und Sozialismus gleichgesetzt. Beidem, so die Argumentation, lägen Ideologien zugrunde, die sich zwangsläufig zu totalitären Systemen entwickeln. Im Gegensatz dazu sei die liberale Marktwirtschaft die einzige ideologiefreie Gesellschaftsform und spätestens seit dem Fall der Mauer und dem „Ende der Geschichte“ galt vielen die Globalisierung des Kapitalismus als „alternativlos“. Dreißig Jahre später mehren sich die Zweifel, ob es wirklich so klug war, wider besseres Wissen der Idee vom unendlichen Wachstum und Wohlstand zu folgen. Nicht nur die soziale Ungleichheit nimmt permanent zu, auch das Ökosystem Erde ist mittlerweile so angegriffen, dass einige Milliardäre planen, ihren Lebensmittelpunkt auf den Mars zu verlegen.

Anleitungen zum Umbau der gegenwärtigen Wirtschaft und Gesellschaft

Liest man Ernest Callenbachs „Ökotopia“ heute, hat der Roman zwei entgegengesetzte Wirkungen. Die erste ist Staunen. Seine „Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999“ lesen sich wie eine Anleitung für den Umbau unserer gegenwärtigen Wirtschaft und Gesellschaft. All die guten Ideen, von denen es heute heißt, sie müssten jetzt umgesetzt werden, sind in Ökotopia schon Realität. Die zweite Wirkung ist Empörung. Wenn alles, was heute als neue nachhaltige Idee gilt, 1975 theoretisch schon so weit durchdacht war, dass Callenbach es zu seinem Roman zusammenfügen konnte, warum haben dann alle „freien“ Marktwirtschaften genau das Gegenteil getan?

Tragfähig ist, was unserem Überleben auf diesem Planeten hilft

Callenbach beschreibt in seinem Roman alle denkbaren Teilbereiche des sozialen, wirtschaftlichen, politischen und privaten Lebens. In Ökotopia geht es nicht um Wirtschaftswachstum, sondern um die Tragfähigkeit aller Entscheidungen und als tragfähig gilt, was den Nachkommen die Chance bewahrt, auf diesem Planeten zu überleben. Callenbachs Utopie ist sanft technologisch, dezentralistisch und hierarchiearm. Der Konsum ist zugunsten von mehr Lebensqualität gedrosselt, die Verkehrspolitik grundlegend verändert, die Energieerzeugung nachhaltig, das soziale Leben von Freiheit und Fairness bestimmt. Doch Callenbachs Gesellschaftsentwurf beruht nicht auf rosaroten Phantasien, sondern auf Überlegungen und Theorien, die in den siebzigern Jahren für den ökologischen Umbau der Wirtschaft ausgearbeitet wurden. In Rüdiger Lutz‘ „Innovations-Ökologie“ (1992) fasst Callenbach unter dem Titel „Meine Vision 2092“ zusammen, was seiner Meinung nach unabdingbar ist, um das Überleben der Menschheit sicherzustellen.

„Fangen wir mit „einfachen“ Dingen an: In jedem Erdteil wurden ursprünglich belassene beziehungsweise regenerierte Gebiete, die groß genug sind, um die biologische Vielfalt zu erhalten, unter Schutz gestellt.“

Wenn es schwierig ist, in einem utopischen Rahmen eine dramatische Geschichte zu entwickeln, bedeutet das im Umkehrschluss, dass das Leben in einer utopischen Gesellschaft höchstwahrscheinlich langweilig ist? Auf seine Bedenken, dass eine Gesellschaft die keinen Wettbewerb und kein Wachstum habe, monoton, statisch und damit uninteressant wäre, bekommt William Weston in Ökotopia, folgende Antwort:

„Es mag sich vielleicht so anhören, in der Praxis gibt es aber keinen Punkt, an dem ein völliges Gleichgewicht herrscht. Wir kämpfen ständig darum, ihm näherzukommen, werden es aber nie erreichen. Und du weißt, wie weit die Ansichten bei uns darüber auseinandergehen, was im einzelnen getan werden muss – wir stimmen lediglich in den wesentlichen Grundlagen überein, alles andere ist in der Diskussion.“

Eine literarische Utopie ist …

Als Roman ist eine literarische Utopie in erster Linie eine Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen. Diese werden als willkürlich und strukturell gewalttätig verstanden. Anders als eine Dystopie, in der alte Denkweisen konserviert werden, stellen Utopien dem Status Quo einen komplexen Gesellschaftsentwurf gegenüber. Einen Entwurf, dessen Vernunft und dessen Phantasie sich über die angeblich Alternativlosigkeit und die Trägheit der bestehenden Verhältnisse hinwegsetzt. Genau das hat Ernest Callenbach vor einem halben Jahrhundert getan. Dass seine Utopie heute noch genau so aktuell ist, wie in den siebziger Jahren, ist nur schwer zu ertragen.

Ernest Callenbach (1975): Ecotopia
Ernest Callenbach (1978): Ökotopia, Aus dem Amerikanischen von Ursula Clemeur und Reinhard Merker, Rotbuch Verlag 
Ernest Callenbach (2022): Ökotopia. Aus dem Amerikanischen von Holger Hanowell
Rüdiger Lutz (Hrsg.) (1992): Innovations-Ökologie. Verlag Bonn aktuell / (1994) Ullstein Verlag

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert