Gegeninterpretation /
In ihrem berühmten Essay „Gegeninterpretation“ von 1966 richtet sich Susan Sontag gegen den Gebrauch von Literatur als Argument. Durch Interpretationen werde einem literarischen Text ein neuer Inhalt zugeschrieben. Kafkas Texte zum Beispiel werden dadurch zu Allegorien: sozial (Irrsinn der Bürokratie), psychoanalytisch (Verhältnis zum Vater), religiös (Wunsch nach Erlösung). Interpretieren, so Sontag, sei die moderne Weise des Verstehens. Verloren gehe dabei die „reine, unübersetzbare, sinnliche Unmittelbarkeit“ der Bilder und die poetische Wahrnehmungsfähigkeit. Auf der Flucht vor der Interpretation, sagt sie, verlegten sich die Autorinnen und Autoren darauf, Werke zu schaffen, „deren Oberfläche so geschlossen und klar, deren Impuls so stark und deren Sprache so direkt ist, dass das Werk sein kann“. Die Kritik bekomme angesichts solcher Werke eine neue Rolle, sie müsse sich der Kunst beschreibend unterordnen und statt die dabei gemachte Erfahrung zu deuten, aufzeigen, weshalb eine ästhetische Erfahrung ist, was sie ist.
Was aber, wenn Literatur, sei es als autonomes System oder symbolisches Kapital, immer eine gesellschaftliche Funktion hat und somit selbst schon immer ein Argument ist?