Poetikon

Die Literatur, die Preise und all die anderen Probleme /

Kreativität gilt als etwas Gutes. Sie ist erwünscht und soll gefördert werden. Gefordert wird sie von fast allen. Darum ist es seltsam, dass sie in dem Maß, wie sie gefordert wird, auch verhindert wird.

Kreativität kommt immer dann ins Spiel, wenn es darum geht, Probleme oder Aufgaben zu lösen oder wenn die bisherigen Lösungen nicht mehr ausreichend oder befriedigend sind. Dann beginnt die Suche nach Mitteln und Wegen, die besser, schneller oder schöner sind, mehr Gewinn oder Spaß oder Erkenntnis versprechen.

Kreativität ist ein Prozess, der in verschiedenen Phasen abläuft: die Problemstellung, Problemanalyse, Inkubation, Illumination, Verifikation und Auswahl. Ein wichtiger Faktor für kreative Lösungen ist es, Dinge anders zu betrachten als üblich, oder Probleme zu sehen, wo andere keine sehen. Etwas geistige Beweglichkeit und das Ausschalten psychischer Barrieren gehört also dazu. Genau hier stößt die Kreativität auf ihre Gegenspieler: Gewohnheiten, Routinen, Konformität, starre Hierarchien und die entsprechenden Wertesysteme und Mentalitäten. Die müssen gar nicht gebündelt auftreten, schon einer dieser Antagonisten reicht, um eine kreative Idee, die noch mitten im Entwicklungsprozess steckt, zu zerbröseln.

Wer soll das bezahlen? So viel Zeit haben wir nicht! Das haben wir schon immer so gemacht. Das werden die Leute nicht verstehen. Und so weiter. Der kreative Mensch, der den Blick vom Problem auf potenzielle Lösungsmöglichkeiten richtet, hat kaum den Mund aufgemacht, da wird sie oder er schon mit Unmöglichkeiten bombardiert. Klar, Unsicherheit ist irritierend und Nachdenken anstrengend. Aber das kann keine Ausrede dafür sein, die Verkehrsprobleme nicht in den Griff zu bekommen und vor dem Klimachaos den Kopf in den Sand zu stecken. Kreative Vorschläge werden oft als weltfremd abgetan oder mit Häme und Aggressionen quittiert. „Es ist, wie es ist“, sagen die „Realisten“ und argumentieren damit, dass das was ist, ja deshalb so ist, weil es erfahrungs- oder traditionsgemäß nicht anders sein kann. Sonst wäre es ja nicht so, wie es ist. Kurz: Wer in der besten aller Welten lebt, braucht keine Kreativität. 

Doch auch in dieser Premiumwelt nehmen die Probleme zu. Und weil kreative Lösungen Routinen in Frage stellen, nehmen auch die Aggressionen und der Hass zu. Das betrifft nicht nur die Ökonomie, sondern auch die Kulturschaffenden, die sich selbst gewohnheitsgemäß immer als Teil der Lösung sehen. Die Spaltung vom Pen Zentrum Deutschland und dem Pen Berlin deutet das an. Aber es muss nicht gleich die ganz große Bühne sein, die Diskussion um die Berlinale oder die Documenta. Das Kräftemessen zwischen Kreativität und Gewohnheit findet auf allen Ebenen der Kultur und Kunst statt. Zum Beispiel bei all den unzähligen Preisverleihungen von Berlin bis Klein Eiderstedt: Auswahl oder Einsendungen, Sichtung und Selektion, Diskussionen und Entscheidungen der Jury, Longlist, Shortlist, Preis, Laudatio! Schema F. Wozu dienen diese Preise eigentlich? Wer finanziert sie? Wer legt fest, wie sie ablaufen? Wäre ein Verfahren denkbar, das nicht die Konkurrenz und die Vermarktung in den Vordergrund stellt? Könnten diese Preise nicht viel anregender sein, produktiver, Solidarität und Kreativität fördernder? Wenn es dann keine „Preise“ mehr wären, wäre das vielleicht gar nicht so schlimm.

Aber wahrscheinlich sehe ich hier ein Problem, wo andere nichts sehen. Schließlich ist das schon immer so gewesen. Wie so vieles: die Theater, die Kunstkritik, der Literaturbetrieb und Hollywood. 

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