Variationen eines Wunders /
In dem Roman „Illusionen“ entwirft Ruth Rehmann ein etwas anderes Bild der 50er Jahre
Auch auf dem eigentlich gut durchorganisierten literarischen Marktplatz gibt es ab und zu Überraschungen. Zum Beispiel Sensationen aus der Vergangenheit. Vergessene oder übersehene Bücher, die plötzlich als Meisterwerke erkannt werden. So ist es in diesem Jahr dem Roman „Illusionen“ von Ruth Rehmann ergangen. Das Buch und die 2016 verstorbene Autorin standen ein paar Tage im Scheinwerferlicht. Wie konnte man so ein Werk übersehen oder vergessen? Was für eine Entdeckung! Dabei wurde die 1922 geborene Ruth Rehmann schon einmal wiederentdeckt. „Ferne Schwester“ ihr 2009 erschienener Roman über die Nachkriegszeit galt vielen Rezensenten als faszinierende Emanzipationsgeschichte.
Eine Erklärung für das Verschwinden von „Illusionen“ aus dem literarischen Archiv ist das Erscheinungsjahr: 1959. Das Jahr der Meisterwerke. Heinrich Böll (Billard um halb zehn) untersucht die braunen Flecken auf den persilweißen Westen der schönen neuen Nachkriegszeit. Der Schweizer Friedrich Dürrenmatt (Der Besuch der alten Dame) mischt mit seinem Wohlstands-Schocker die Bühnen auf. Uwe Johnson (Mutmaßungen über Jakob) und Günter Grass (Die Blechtrommel) geben ihre Romandebüts, in denen sie im Westen wie im Osten die jüngste Vergangenheit nicht einfach vergehen lassen wollen.
Nierentisch, Toast Hawaii und Petticoat
Heute sind die 50er Jahre in Deutschland ein Mythos und die nostalgischen Bilder konstruieren eine dynamische, vom Aufbruch begeisterte Gesellschaft: Nierentisch, Toast Hawaii, Rock ’n‘ Roll, Petticoat, die knatternden Motorroller, eine Million VW Käfer, Reisen und das „deutsche Fräuleinwunder“. Alle, egal ob jung oder alt, heißt es, ziehen an einem Strang, um das kaputte Deutschland schnell wieder aufzubauen, moderner und heller. Die Arbeit macht Spaß, die Oberflächen glänzen und die neuen Möbel sind besser als die alten. In den Erzählungen vom ökonomischen Aufstieg Westdeutschlands bewegen sich die Zigarren- und die Zigarettenraucher in die gleiche Richtung. Über Klassen-, Geschlechter-, Bildungsschranken und alle kompromittierenden Vergangenheiten hinweg legt sich ein fröhliches und sattes Mitmachen an Fortschritt und Wohlstand.
Ein paar Spielverderber oder gar Nestbeschmutzer reiben sich ungläubig die Augen. Wie kann das sein? Vor kurzem noch den totalen Endsieg fest im stählernen Blick, dann der Untergang, die Aufdeckung eines unglaublichen Zivilisationsbruchs und jetzt Happy Holiday. Ingeborg Bachmanns Gedicht „Reklame“ von 1956 fast dieses Unbehagen am Vergessen durch Konsum eindrücklich zusammen.
Eine still stehende Welt aus rasanter Sprache
In Ruth Rehmanns Roman sind die Nazi-Zeit und der verlorene Krieg nur noch ein dumpfes Hintergrundrauschen. Die 1922 geborene Autorin entfaltet in ihrem ersten Roman eine still stehende Welt aus einer rasanten Sprache. Die Genauigkeit, mit der sie Gedanken, Befindlichkeiten, Träume und Enttäuschungen ihrer Figuren entwirft, ist einzigartig. Die psychologischen und gesellschaftlichen Beschreibungen entwickeln einen Sog, der sich permanent zu steigern scheint. Die Geschichten von vier Angestellten kreisen immer schneller und intensiver um eine Leere, deren Ursache wohl in genau diesem alternativlosen Wirtschaftswunder liegt. Schon nach wenigen Seiten fragt man sich eventuell ein wenig ängstlich, ob es der Autorin gelingen wird, den ganzen Roman in dieser sprachlichen Dichte durchzuhalten.
„Entschlossen setzte sie die Füße in die Stille des verlassenen Gebäudes, die ihr dicht und massiv entgegenwuchs, sich widerwillig teilte und links und rechts von ihr in glatten Wänden aufstand, sie einsam auf dem Grunde eines schmalen Schachts marschieren ließ, heftig ausschreitend, und doch, aus der unendlichen Höhe der Stille betrachtet, fast auf der Stelle tretend. Das Haus schien leer und tot, Paternoster und Aufzüge abgestellt, Schreibmaschinen verstummt und die unübersehbar gereihten Türen unzugänglich wie Attrappen vor jähem Absturz. Sie blickte rasch über die Schulter zurück, ob sie die Letzte sei, denn den Letzten beißen die Hunde. Hinter ihr kam niemand mehr. Das Gebäude hielt den Atem an … Was geschah, wenn die Firma diese Gänge für dreiundvierzig Stunden entleert zurückließ? Fielen sie zusammen wie ein Schlauch, dem die Luft abgelassen wird? … Leer und fremd im vibrierenden Licht der Neonröhren bog und dehnte sich der Korridor, eine Uhr glitt ihr entgegen und blieb ihr auf den Fersen mit dem überhetzten Pochen hoffnungsloser Verspätung, mit der Angst, den Anschluss zu verpassen, als sei dieses Wochenende nur auf dem Steg eines lückenlosen Ablaufs zu überschreiten, nur keine Pause, nur kein Einbruch in die dünne Decke, die nur flüchtige Füße trug.“
Keine risikofreudigen Abenteurer und Hochstapler
Auch in Martin Walsers erstem Roman „Ehen in Philippsburg“ (1957) ist der Blick der Figuren mit einer gewissen Starre der Zukunft zugewandt. Seinem Protagonisten Hans Beumann geht es darum, gesellschaftlich aufzusteigen. Seine literarischen Vorbilder sind die französischen Parvenüs des 19. Jahrhunderts Julien Sorel aus Stendhals „Rot und Schwarz“ oder Lucien Chardon aus Balzacs „Verlorene Illusionen“. Doch die historische Ausgangssituation ist eine andere. Beumann agiert nicht in einer saturierten Gesellschaft, er ist kein risikofreudiger Abenteurer und Hochstapler, kein geschmeidiger Felix Krull. Das Grunderlebnis des deutschen Nachkriegs-Parvenüs ist der Schock des totalen Zusammenbruchs.
Walsers jungen Kleinbürger zeichnet deshalb eine gewisse Pedanterie aus, die ihn in einen Widerspruch zur einsetzenden Wirtschaftswundereuphorie bringt, ihn spießig und alt aussehen lässt, aber gleichzeitig als Durchschnittstypen des nivellierten Bundesbürgers definiert. Insgesamt ergibt sich daraus eine Situation, die für den männlichen Karrieristen nicht nur von Stolz auf seinen persönlichen Erfolg geprägt ist, sondern auch von einer gewissen Lustlosigkeit. Der Aufstieg ist ein Pflichtprogramm und kein rauschendes Emporkommen. Oder wie Hans Beumann es selbst formuliert, „eine sattsam bekannte Biographie, ein stereotyp gewordener Verlauf“. Was bleibt, ist die Angst wieder Abzusteigen und eine Desillusionierung darüber, was man einen eigenen Weg, Individualität oder gar eine eigene Identität nennen könnte.
Das Fräuleinwunder – ein Fluch für Rehmanns Sekretärinnen
Walsers honorig-korrupte Gesellschaft ist weit entfernt von den mondänen Aspekten der 50er Jahre. Das sogenannte „Fräuleinwunder“ scheint um Philippsburg einen eleganten Bogen zu machen. Susanne Erichsen, die erste Miss Germany der Bundesrepublik prägte weltweit das Bild der modischen, gut aussehenden und selbstbewussten jungen deutschen Frau. Für die drei Sekretärinnen in Ruth Rehmanns Roman entpuppt sich dieses Rollenmodell eher als Fluch. Es ist Anforderung, Verheißung und Festlegung in einem. Der permanente Vergleich mit dem Ideal der schönen aber gesellschaftlich nicht wirklich relevanten Frau und das darin aufscheinende Versprechen, ein ganz anderes Lebens führen zu können, sind eine Ursache für die ungeheure Leere, von der „Illusionen“ erzählt.
Drei Frauen aus drei Generationen sind in das Büro EA-39 des Wellis-Konzerns gepfercht. Dreizehnter Stock. Frau Schramm, Chefsekretärin, dreiundsechzig fürchtet sich vor der jüngeren Carmen Viol. Die neunzehnjährige Therese, Schreibkraft auf Probe, lebt in ihrer Phantasie mit ihrer Clique ein schnelleres Leben. Paul Westermann, dreißig, Übersetzer für Französisch auf Probe, ist mit seinem Schreibtisch zwischen den sich belauernden Sekretärinnen und seiner Familie eingeklemmt. Nach dem Feierabend am Samstag wird er an der Wohnung, in der Frau und Kind auf ihn warten, vorbeigehen und einen Schulfreund treffen, mit dem er einst kühne Pläne schmiedete. Als Jugendliche wollten sie dem Spießertum entfliehen und bei der Fremdenlegion anheuern, schließlich hatten sie den letzten Krieg aufgrund ihrer Jugend verpasst. Aus der Tiefe des Textes grüßen Ernst Jüngers „Afrikanische Spiele“, allerdings gehörig gerupft und dekonstruiert.
Alle Gedanken des Sonntags entspringen diesem Büro. Das mütterliche Verhältnis von Frau Schramm zu ihrem Chef wird kurz vor Feierabend jäh gekündigt. Der Firmeninhaber, ein aufgedunsenes Riesenbaby, entlässt die treue Komplizin mit ein paar trostlosen Sätzen. Ihre Nachfolgerin, die noch „alterslose“ Carmen Viol versinkt am Samstagabend in trivial-tragische Phantasien von Männern, die sie dominiert und Therese versucht, Anschluss an Jeff, Fred oder Charles zu finden, die ihr das Leben ermöglichen könnten, das sie sich erträumt. Für den Bechdel-Test ist dieser Roman eine Herausforderung. Er handelt zwar fast nur von Frauen, aber die definieren sich über die Arbeit und über Männer, die in dieser Welt herrschen.
Metaphern der Arbeitsmoral
Die fröhliche Ökonomie strahlt bei genauem Hinsehen eine gewisse Totalität aus. In „Illusionen“ dominiert eine Architektur, die als Metapher für die Arbeitswelt der Nachkriegszeit stehen könnte und die sich auch in einer Erzählungen von Heinrich Böll findet. In der Wirtschaftswundersatire „Es wird etwas geschehen“ landet der Protagonist zum Vorstellungsgespräch in einer „ganz aus Glasziegeln“ gebauten Fabrik. Auch im Wellis-Hochhaus bestehen nicht nur die Fassade, sondern auch die Wände aus Glas: „Ausgenommen von dieser Durchsichtigkeit sind die Büros der Chefs und ihre Vorzimmer.
„Das neue Verwaltungsgebäude des Wellis-Konzerns hat die Form einer hochgestellten Streichholzschachtel, breit von vorn, schmal von der Seite, in der Mitte von der Verglasung des Treppenhauses gespalten, hinter der sich die entblößten Geländer in ausladenden Serpentinen aufwärts schrauben. Figuren steigen und sinken in der bläulichen Flüssigkeit der Neonbeleuchtung, deutlich sichtbar und doch entrückt in ein Reich mit eigenem Licht, eigener Atmosphäre, gleichförmigem Klima und ewiger Windstille.“
Der Pförtner sitzt in einem „Glaswürfel“, für die „ungeheuren Glasflächen“ werden ganze Kolonnen von Fensterputzern beschäftigt. Einer von ihnen, ein ehemaliger Zirkusartist, turnt als moderner Narr über die Fassade, repariert Sonnenrollos und blockierte Kippvorrichtungen, erschreckt und entzückt die leicht erregbaren Bürodamen, kennt sie, durchschaut sie und wundert sich abends in seiner Stammkneipe über die müden Männer, die stumm in ihre Gläser schauen.
„Am Sonntagabend nimmt die Stadt ihr verstreutes Eigentum zurück. Sie schlägt um den Kern der Häuser und Straßen mit großem Radius ihr magnetisches Feld weit ins Land hinein und zieht an sich, was ihr gehört. Unrast überfällt die Masse der Ausflügler am Autobahnrand, in Raststätten, auf Seeterrassen, in Waldgasthäusern und Dorfschenken. Eiliger klirren die Kaffeelöffel, Ellenbogen winkeln sich zum Blick auf Armbanduhren und die von sonntagsüberdrüssigen Kindern gepeinigten Mütter suchen flehend den Blick des Hausherrn hinter Bierschaum.“
Schlaft schneller!
Vielleicht geriet Ruth Rehmanns Roman in Vergessenheit, weil sie ein weibliches Licht auf das Wirtschaftswunder wirft und Männer, die damals den Literaturbetrieb dominierten, nur als Randfiguren vorkommen. Bis zum sogenannten literarischen Fräuleinwunder um das Jahr 2000 gingen noch vierzig Jahre ins Land. Vielleicht ist diese Perspektive aber auch der Grund dafür, dass der Roman jetzt wieder entdeckt wird. Und zwar gerade weil darin von weiblicher Selbstermächtigung noch keine Spur zu finden ist und die oft schön und bunt ausgemalten Wunderjahre plötzlich gar nicht mehr so wunderbar aussehen.
Was die Qualität des Buches ausmacht, sind Rehmanns funkelnde Beobachtungen und eine Sprache, in der sie eine realistische, leicht kafkaeske Welt entwirft. Eine Welt, in der etwas schief gelaufen ist bei den Männern, der Wirtschaft, den Frauen, den Menschen, die sich mit ungeheurem Aufwand eine so umfassende Leere schaffen. Auch wenn die Arbeits- und Konsummoral des Wirtschaftswunders eine Fluchtbewegung in die Zukunft markiert, weg von der Schuld und den Trümmern der Vergangenheit, ist „Illusionen“ nicht nur historisch interessant. Schließlich leben wir in dieser mit Übergewinnen und Überkonsum von Krise zu Krise torkelnden Zukunft, in einer Variation dieses Wunders
„Schlaft schneller, schlaft tiefer, schlaft rückwirkend und im voraus, streckt euch nach der Decke, die dünn, kurz und schmal ist, durchlöchert vom Dröhnen der Fernlaster, vom Rangieren der Züge, vom Scheppern nächtlicher Trams, jeder, der hier schlafen will, braucht seine Träume, um die Löcher zu stopfen und die dünnen Stellen mit Farbe zu besticken, um dort, wo die Decke nicht ausreicht, sein Stückchen fortzuweben, in der Hoffnung, dass sie noch einmal fertig wird und ihn behütet mit einer Ruhe, die kein Wecker erreicht.“
Zu Ruth Rehmanns hundertstem Geburtstag sind im Aviva Verlag Berlin erschienen:
Illusionen. Roman. Mit einem Nachwort von Werner Jung.
Drei Gespräche über einen Mann und andere Hörspiele. Mit einem Nachwort von Werner Jung.
Im Hanser Verlag München erschienen die Romane:
Ferne Schwester (2009)
Unterwegs in fremden Träumen (1993)
Abschied von der Meisterklasse (1985)