Was ist das eigentlich: Tradition, Gewohnheit, Ritual, Prägung?
Besuch bei der Mutter, Nachmittagsfernsehen: Rote Rosen, Folge viertausendeinhundertneunundachtzig. Auch wenn man mal hundert Folgen verpasst, kann man der Handlung folgen. Liebesgeschichten, Arbeitswelt, private und berufliche Intrigen. Das Private ist hier immer auch beruflich. Die Botschaft ist klar: Zur Zeit tragen alle Männer einen Bart.
Das Überraschende passiert nicht in der Daily Soap, sondern danach, wenn man kurz durch die Sender zappt und an dem Gesicht eines bekannten Politikers hängen bleibt. Auch er trägt jetzt einen Bart und erklärt uns pausenlos die Welt, wie er und seine Freunde sie gern hätten. Gleicher Tonfall und gleiche Glaubwürdigkeit wie in der Serie.
Das Gesicht dieses Populismus, der sich noch immer gern als Mitte bezeichnet, ist also das einer Seifenoper. Und dort sind die Figuren in die Diskurse dieser selbsternannten Mitte eingebunden. Oder sollte man besser sagen: von ihnen gefesselt? Denn darum geht es in dieser und vielen anderen Serien: den unendlichen Versuch, sich aus diesen Fesseln zu befreien. Diese Art von Erzählung hat für das System durchaus eine stabilisierende Wirkung. Doch eins unterscheidet die alltäglichen Sisyphos-Geschichten grundlegend von dem bärtigen Politiker: In ihnen versuchen die Figuren, sich und die Welt zu retten.