Pia Klemp
Pia Klemp Foto: Paul Lovis Wagner

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Pia Klemp – In einem anderen Licht

Es kann sein, dass die Vereinbarungen, die man Normalität nennt, plötzlich zerfallen: Ein Besucher geht durch deine Wohnung und unter seinem Blick zerbröselt, was du zusammengetragen hast. Es gibt eine andere Perspektive. Du hast davon gehört, sie früher vielleicht sogar selbst gekannt. Aber dann kamen Ausbildung, Studium, Arbeit, die Kinder und die Karriere. Jetzt zerfällt dieses Arrangement, in dem es halbwegs gemütlich war, in viele ungemütliche Einzelteile. Denn aus der anderen Perspektive wirkt das, was dir wichtig und richtig erscheint, wie eine Aneinanderreihung von Täuschungen, ja, wie ein großer, umfassender, durch nichts zu entschuldigender Selbstbetrug.

Pia Klemps zweiter Roman handelt von Zweifeln

Selbstbetrug ist nicht die Sache der Erzählerin und Hauptfigur von „Lass uns mit den Toten tanzen“. In Pia Klemps zweitem Roman geht es um das Gegenteil, die Zweifel ihrer Hauptfigur. An sich, an dem, was sie denkt, fühlt und tut. Sie hadert mit der Menschheit, bis hin zur Misanthropie. Trotzdem kann sie nicht anders, als sich gegen das, was sie für falsch hält, aufzulehnen. Und da kommt einiges zusammen. Mit anderen Worten: Es wird grundsätzlich und radikal. In der gemütlichen deutschen Gegenwartsliteratur ist das eher selten der Fall.

Kapitän auf dem Schiff einer Hilfsorganisation

Die Erzählerin und Heldin des Romans ist Kapitän auf dem Schiff einer Hilfsorganisation. Sie fischt zusammen mit ihrer Crew schiffbrüchige Flüchtlinge aus dem Mittelmeer. Alle, die dort Leben retten, sich nicht der Politik der Europäischen Union unterordnen, sich mit der libyschen Küstenwache und der immer weiter nach rechts rückenden italienischen Justiz anlegen, sind Helden. Nicht nur im Roman. Dieses Verschwimmen der Grenze zwischen Realität und dem, was wir Fiktion nennen, ist ein interessanter Aspekt des Buchs. Die Autorin ist tatsächlich Kapitänin auf der Juventa und der Sea-Watch 3 gewesen. 2017 beschlagnahmte die italienische Justiz ihr erstes Schiff und klagte sie und Mitglieder ihrer Crew wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung an. Neben zwanzig Jahren Haft droht ihnen eine Geldstrafe in Millionenhöhe. „Lass uns mit den Toten tanzen“ erschien 2019 und erzählt, wie es dazu kam.

Eine spannende manchmal auch provozierende Geschichte

Das klingt nach einem lohnenswerten aber auch riskantem literarischen Projekt. Wer versucht, etwas so darzustellen, wie es ist, aber nicht sein sollte, gerät oft an die Grenzen seiner handwerklichen Fähigkeiten. Geht es wie hier zudem um eine realistische autobiografische Erzählung, die politische Fragen, gesellschaftliches Engagement und Diskurse in Literatur umsetzen soll, steigt das Risiko exponentiell. Wie schnell selbst Autoren mit Literaturinstitutshintergrund dabei ins Triviale abrutschen, zeigt der Roman „Leere Herzen“ von Juli Zeh (2017). Pia Klemp hingegen scheint ganz locker und unbefangen eine spannende, entwaffnende und manchmal auch provozierende Geschichte aus dem Ärmel zu schütteln

Natürlich spielt die Autorin mit ihrer Glaubwürdigkeit und Echtheit. Sie wurde 1983 geboren, hat eine Weile Biologie studiert, dann ihren Master of Yachts gemacht, für die Meeresschutzorganisation Sea Shepherdund Jugend rettetgearbeitet. Dafür erhielt sie den Clara-Zetkin-Frauenpreis und den Paul Grüninger Preis. Dass vieles, was sie erzählt, tatsächlich passiert ist, spielt für die Wirkung des Romans eine nicht unerhebliche Rolle. Für die Beurteilung des Textes selbst ist es nebensächlich.

Liebesgeschichte zwischen der Erzählerin und einem freiwilligen Helfer

Die Handlung setzt kurz vor der ersten Rettungsaktion ein. Schon hier fädelt die Autorin eine Liebesgeschichte zwischen der Erzählerin und einem der freiwilligen Helfer ein. Die beiden Rettungsaktionen bilden die abenteuerlichen Wendepunkte der Geschichte. Gerade in diesen dramatischen Momenten hält sich die Autorin zurück. Pia Klemp geht es nicht um kurzfristige Betroffenheit oder Empörung. Sie erzählt packend, aber nicht voyeuristisch und zieht sich bei der zweiten Fahrt fast auf das Protokollieren dessen zurück, was an Unvorstellbarem passiert

Aber zurück zum Anfang: Nach der ersten Aktion und der Beschlagnahmung des Schiffs, fährt die Erzählerin in die Stadt, in der sie aufgewachsen ist. Sie quartiert sich, um etwas runter zu kommen und aus Mangel an einem festen Wohnsitz bei Emma, einer Jugendfreundin ein. „Natürlich ist sie vegan, selbstredend Antifaschist. Es gibt keine gottverdammte Diskussion darüber, ob wir dieses System stürzen müssen, nur darüber wie.“ Das ist mal eine klare Positionierung.

Aber selbst bei alten Bekannten findet die Kapitänin auf Zwangsurlaub keine Ruhe: 

„Paul gesellt sich zu uns. Leider hat an diesem Abend wohl jemand ein Schild an meine Stirn gepappt, auf dem in Großbuchstaben steht, dass mein Leben und mein Aktivismus zur allgemeinen Debatte stehen. Manchmal komme ich mir wie eine Nummer in einer Freakshow vor, wo jeder einmal in xenophober Neugierde mit dem Zeigestock piken darf, um zu sehen, wie so ein Sonderling reagiert.“

Ein Bier später fasst sie den Schlagabtausch über Veganismus und Flüchtende zusammen:

„Die Entfremdung, das zwanghafte Definieren der Unterschiedlichkeit, das uns so gnädig der Pflicht und der Schuld enthebt, läuft immer nach dem gleichen Prinzip ab. Die Definitionen von Speziesismus und Rassismus lesen sich erstaunlich gleich.“

Auch der Feminismus ist noch eine Großbaustelle. Bei der Beschlagnahmung des Schiffes klingt das so: „Als der Capo feststellt, dass nicht nur der Kapitän, sondern auch der erste Maschinist penislos ist, wirkt er, als stünde er kurz vor einem Herzinfarkt.“ Dass ein italienischer Hafenchef und Macho so tickt, ist nicht überraschend. Auf der Suche nach etwas Abwechslung in einer deutschen Kneipe ist es allerdings nur graduell anders: „Und was machst du so?“, fragt mich der mit der viel zu teuren Kappe, der trotzdem verflixt gut aussieht. „Ich arbeite auf Schiffen.“ „Oh krass“, freut er sich und nickt wissend. „So als Stewardess, was?“ Das führt zu folgendem Fazit: „Wenigstens kann man sich darauf verlassen, dass sie nicht weiterdenken, ihr Kopf viel zu tief in ihrem eigenen Arsch steckt, um ihr Gegenüber je als substantielles Wesen zu begreifen.“

Der Weg zurück ist also verstellt. Denn das Denken selbst in einem halbwegs liberalen Milieu entwickelt sich nicht in dem Tempo, dass die Erzählerin für sich und alle anderen beansprucht. Vielleicht hat es sogar den Rückwärtsgang eingelegt.

Der nächste Zukunftsentwurf zerbröselt

Nach der zweiten Rettungsaktion und ihrer Ablösung, zieht es die Kapitänin zu Lyn, mit dem sie auf der ersten Fahrt eine Liebesgeschichte angefangen hat. Auch dieser Zukunftsentwurf zerbröselt. Das sich zunehmend schal anfühlende private Glück ist nichts für eine Aktivistin von dieser Kompromisslosigkeit. Sie reißt sich aus der Beziehung und der dahinter lauernden Bequemlichkeit heraus. „Alles ist zermarternd und im Tran. Ein unmassierbarer Krampf in meinem Sein, der mir die Leichtigkeit nimmt, und mich stattdessen zur nutzlosen Grübelei verdammt. Ich weiß nicht, wie ich aus diesem Gedankenlabyrinth herausfinden soll. Jede Abzweigung bringt nur noch mehr Zweifel. Seit fünf Tagen fahre ich ziel- und hoffnungslos durch das Land und will nirgends ankommen, bei niemandem klingeln. Es soll hergottnochmal aufhören wehzutun. Voller Neid spähe ich auf mein Zukunfts-Ich und mit zähem Selbstmitleid auf das gegenwärtige.“

Dicht, poetisch und voller Selbstempowerment

Der Roman von Pia Klemp entfaltet seine Wucht nicht nur aus der Geschichte und ihrer Nähe zur Realität, sondern vor allem durch seine Sprache. Die Mischung aus Punk, eher Männern zugeschriebener Vulgarität, Diskursbrocken, Reflexionen, Selbstoffenbarungen und Gefühlsabgründen ist vom ersten bis zum letzten Satz dicht, poetisch und strotzt vor Selbstempowerment. Sie eignet sich Verhaltensmuster an und wertet Sprachregelungen um. In den ironischen, teilweise zynischen Szenen und Dialogen beginnt die Absurdität einer rundum verlogenen Gesellschaft wie unter einem Stroboskop zu flackern.

Für einen Vergleich mit diesem Aktivismus-Roman bietet sich der 2018 erschienene und mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete Roman „Schäfchen im Trockenen“ von Anke Stelling an. Ein ähnlicher Sprachmix, das gleiche Spiel mit der Realität. Anke Stelling erzählt in der Ich-Form von einer Schriftstellerin, die an den Klassenunterschieden einer schwäbischen Berlin-Kolonie leidet. Autorin und Figur, Erzählung und Realität sind kaum zu trennen. Ihre Abrechnung mit dem neuen Klassismus und ihre „schonungslose Milieu-Beschreibung“ kreist um Fragen der Mutterschaft, der Karriere und ob man zu denen gehört, die auf PVC-Böden oder alten Holzdielen wohnen.

Nach der Lektüre von „Lass uns mit den Toten tanzen“ sieht man nicht nur sich selbst anders. Auch die kleinbürgerlichen Distinktionsschmerzen des deutschen Literaturbetriebs erscheinen in einem anderen Licht.

Pia Klemp (2019): Lass uns mit den Toten tanzen. Roman. Maro Verlag.
Weitere Bücher von Pia Klemp: Allmende und Schrebergarten (2018), Edition Contrabass. Und: Entlarvung (2021), Ventil Verlag.

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