Ivan Klíma – Welt ohne Traum
Es ist egal, aus welcher Perspektive man Ivan Klímas Roman „Stunde der Stille“ betrachtet. Als ein Buch über die Verwandlung von Idealen in Ideologie oder eine aus Reportagen zusammengesetzte Dokumentation, ein Beispiel für den Sozialistischen Realismus oder die Kritik an einem naiven Technikglauben. „Stunde der Stille“ ist ein meisterhafter Roman.
Sozialistischer Realismus?
Eigentlich hat der Sozialistische Realismus ein schlechtes Image. Seine Geschichten sind schematisch angelegt und handeln von Heldinnen und Helden, die anfangs noch nicht das richtige Bewusstsein für die große historische Sache des Sozialismus haben, dann aber erkennen müssen, dass die Partei den einzig richtigen Weg in die Zukunft kennt. Auch in der DDR gab es bemerkenswerte Bücher aus dieser Schule. Ähnlich wie Klíma fragt Brigitte Reimann mit ihrer Architektin „Franziska Linkerhand“ (1974) wie es dazu kommen konnte, dass die Ideale einer Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit großen Hoffnungen aufgebrochen ist, in einer zunehmend erstarrenden Gesellschaft zerfallen. Gleichzeitig ist „Stunde der Stille“ ein Beispiel für den liberalen Geist, der in den frühen sechziger Jahren in der Tschechoslowakei herrschte. Autoren wie Milan Kundera und Václav Havel aber auch die Filme von Miloš Forman und Věra Chytilovádie konnten bis zum Prager Frühling erscheinen.
Ein Dorf in der Ostslowakei
Die Handlung von Klímas erstem, 1963 veröffentlichten Roman setzt in den letzten Kriegstagen ein. Ein Dorf in der Ostslowakei wird auf dem Rückzug von deutschen Truppen niedergebrannt. Nach dem Krieg ziehen sich tiefe Gräben durch die Dorfbevölkerung. Bei vielen weiß man, wer Opfer, wer Täter, wer Mitläufer und wer ein Verräter war. Bei anderen ahnt man es nur. Arm sind alle, denn hier versengt entweder die Sonne das Land oder das Hochwasser vernichtet die magere Ernte.
„Der Ingenieur blickte in den großen, verdreckten Saal, ab und zu klirrte ein Glas … er konnte es noch immer nicht fassen, dass dies der große historische Moment sein sollte … im Saal herrschte immer noch Stille, er erinnerte sich, wie die Leute damals schweigend an ihm vorbeigezogen waren, als er Arbeiter für den Deich gesucht hatte … Sie betrachteten ihn schweigend und misstrauisch: fremde, verschlossene Gesichter, breite Münder, schmutzige Haare, Mäntel mit vielen Flicken, Hosen, die sie noch immer daheim aus Hanf woben, er war so weit weg von seiner Heimat, hier herrschten Not und Elend.“
Mosaik aus Figuren
Hier lebt Pavel, der Sohn des Flusswächters in einer eigenen Welt aus Träumen, Musik, großen Plänen und er liebt die schöne Janka. Große Pläne hat auch der Vermessungsingenieur Martin Petr. Er stammt aus der Stadt und geht in diese gottvergessene Gegend, um für seine Gleichgültigkeit zu büßen und seinem Leben wieder einen Sinn zu geben. Seine Geliebte hat für den Widerstand gearbeitet und ist nicht aus der Gefangenschaft zurück gekehrt. Klíma entwirft ein gesellschaftliches Mosaik aus exemplarischen Figuren, die er psychologisch ausleuchtet: der Arzt, der Lehrer und der Pfarrer. Jeder von ihnen hat eine Mission. Der eine flickt die Opfer von vergessenen Minen zusammen und kämpft gegen die Malaria. Der andere will der Landbevölkerung ihren Pessimismus austreiben und macht sich zum Narren. Der Pfarrer kennt alle Sünden seiner Gemeinde und hat selbst soviel Schuld auf sich geladen, dass er nicht mehr an Gott glaubt. Trotzdem hetzt er die Bauern gegen die neuen Ideen auf. Janka möchte nur, das es ihr besser geht als ihrer versoffenen Mutter. Sie landet in einer Fabrik, in der die Arbeit so entfremdet ist wie eh und je. Die aus bürgerlichen Verhältnissen stammende Evžena folgt dem Landvermesser in die hoffnungslose Provinz, um als agitierende Lehrerin die Kollektivierung der Landwirtschaft und den Aufbau der neuen Gesellschaft voranzutreiben.
„Sie zog sich aus. Vor nicht langer Zeit noch hatten sie sich in solchen Situationen Zärtlichkeiten gesagt oder geschwiegen und sich dann umarmt, doch nun war sie außerstande, ihre Gedanken auf etwas anderes zu lenken als die Szenen, die sie täglich sahen, und die Worte, die in aller Munde waren. Sie hatte das Individuelle wohl schon eingebüßt: ihre eigenen Worte, ihren eigenen Blick.“
Klíma erzählt filmisch
Zu Klímas Meisterschaft gehören neben einer untergründigen Dramaturgie Dialoge, die auf überraschende Wendungen und Pointen hin gearbeitet sind. Man merkt dem Roman an, dass er aus einem Drehbuch hervorgegangen ist. Klíma erzählt filmisch, springt von einer Figur zur andern und von einer Szene zur nächsten. Wie nebenbei entwickelt sich die Spannung dieser archaischen Landschaft, in der Zeit, Geschichte und Politik mit den Lebensläufen verwachsen sind. Hier gibt es nichts Kleines. Die Figuren sind überlebensgroß bis hin zu dem durch den Krieg taub gewordenen, einäugigen Pferd, dass den Landvermesser in einer Winternacht ohne zu scheuen durch näher kommende Schüsse und das Heulen der Wölfe zieht. Klíma schildert die überall lauernde Trauer, Verzweiflung, Hoffnung und Schuld in einem fast sachlichen Ton, der sich immer wieder zu einer nüchternen Poesie verdichtet. Sein Landvermesser ist eine realistische und poetische Figur zugleich. Mit ihr thematisiert der 1931 geborene Klíma ein echtes geographisches Problem und spielt gleichzeitig auf Kafkas „Schloss“ an. Der gegen den Widerstand der Bauern geplante und nicht vollendete neue Deich erinnert an Storms „Schimmelreiter“ und überträgt den zeitlosen Konflikt zwischen Altem und Fortschritt auf den Aufbau des Sozialismus.
„Er musste daran denken, dass sie in den Seelen der Dorfbewohner Hass säten, Verachtung und Misstrauen gegenüber ihnen selbst und dem, was sie vertraten, gegenüber der Sache, an die sie glaubten. Gleichzeitig aber – und das war noch schlimmer –, erzogen sie sie zum Schweigen, einem Schweigen, das ihren Widerspruch verdeckte.“
Am Ende sind die Idealisten enttäuscht, die Realisten erschöpft, es schlägt die Stunde der Fanatiker und Opportunisten. Die misstrauische Landbevölkerung schweigt. Die über Generationen weitergegebenen Erfahrungen der Unterdrückung legt sich als Stille über das Land. Eine Stille, in der eine Partei, die gegen die Menschen, deren Interessen sie angeblich vertritt, Recht haben will und damit eine historische Chance verspielt.
Ivan Klíma (1963 / dt. 2012): Stunde der Stille. Roman. Aus dem Tschechischen von Maria Hammerich-Maier. Transit Verlag.