Antonio Tabucchi, Erklärt Pereira, DTV

Poetikon

Eine Frage der Horizonte /

Das Verhältnis von Autor:in und Werk wird unterschiedlich bewertet. Ursache dafür ist der gesellschaftliche Kontext. Hans Georg Gadamer hat für diesen Kontext die schöne Metapher des Horizonts eingeführt. Und dieser gesellschaftliche oder historische Horizont verändert sich permanent. Was gestern passiert ist, wird ein Teil des gegenwärtigen Horizonts. Zeitreisende kennen sich mit den Gefahren aus, die darin lauern. 

Es ist möglich, ein Werk und die Person, die es produziert hat, als getrennte Größen zu betrachten. Das Werk wird unter ästhetischen, die Person unter ethischen Gesichtspunkten bewertet. Also: Wie diese Person in der Realität gehandelt und was sie gedacht hat, hat dann nichts mit deren Kunst zu tun. Die Filme von Leni Riefenstahl, die Bücher von Ernst Jünger und die Musik von Richard Wagner kann man toll finden, auch wenn diese Kollaborateurinnen, Kriegsfreunde und Antisemiten gewesen sind.

In Antonio Tabucchis Roman „Erklärt Pereira“ (1994) ist das anders. Dr. Pereira, der Redakteur einer Lissabonner Zeitung, bekommt von einem jungen Mann Nachrufe auf Autoren, die Werk und Autor in eins setzen. Monteiro Rossi ist es egal, ob einer von ihnen ein paar schöne Gedichte geschrieben hat. Filippo Tommaso Marinetti ist für ihn zum Beispiel einfach ein Feind der Demokratie, ein Kriegshetzer, eine finstere Gestalt. Das Buch spielt im Jahr 1936 in Portugal unter der konservativ-autoritären Diktatur von António de Oliveira Salazar, im Nachbarland Spanien tobt der Bürgerkrieg, in Italien und Deutschland haben die Faschisten die Macht ergriffen. 

In den neunziger Jahren, als der Roman erschien, war die Trennung von Person und Werk oder anders gesagt „Der Tod des Autors“ eine postmoderne literaturwissenschaftliche Norm. Vielleicht war man sich damals seines stabilen demokratischen Horizonts sehr sicher. Die gegenwärtige Situation mit ihren Drohungen und Bedrohungen hat in rasantem Tempo zu einer anderen Sichtweise geführt. Person und Kunstwerk werden aneinander gekoppelt. Teilweise sind die Einstellungen der Produzent:innen zum eigentlichen Bewertungskriterium geworden. Vielleicht, weil man momentan direkt dabei zuschauen kann, wie aus Haltungen Handlungen werden. Die Großzügigkeit oder Gleichgültigkeit der 90er Jahre scheint angesichts eines Horizont, der sich von Tag zu Tag weiter verdüstert, nicht mehr akzeptabel zu sein. 

Bleibt eine Frage: Funktioniert diese „Horizontverschiebung“ auch umgekehrt? Werden die Bücher von Autorinnen und Autoren, die es offensichtlich „gut“ meinen, tendenziell besser bewertet? Ja, kann es sein, dass die Werke einer Person, die ethisch untadelig und engagiert ist, gut bewertet werden, auch wenn diese Kunstwerke bei genauerem Hinsehen das Gegenteil von dem aussagen, was ihre Schöpfer:innen in Interviews und Talkshows äußern? Und wem sollen wir dann trauen, der Person oder dem Werk?

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