Alltage

Die Kunst des Vergleichens /

Die Besonderheit des Menschen wird meistens damit begründet, dass wir im Gegensatz zu anderen Lebewesen Werkzeuge benutzen, sprechen und erzählen können. Aber vielleicht ist da noch etwas anderes: Wir vergleichen uns. Klar, auch Vögel plustern während der Balz ihr Gefieder auf, Hirsche messen ihre Geweihe. Nur Menschen vergleichen sich immer und überall: Welche Jenas trägst du? Welches Logo glänzt auf deiner Handtasche? Wo wohnst du? Hast du Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Weihnachtsgeld oder bist du Subunternehmer eines Subunternehmers unter dem Mindestlohn? Es gibt Millionäre, Milliardäre und dich. Fährst du Fahrrad, E-Bike oder Lastenrad. Wie viel Emissionen sparst du ein? Hast du zwei Kinder oder drei? Auf welche Schule gehen die? Zu welcher Generation gehörst du? Und erst die Autos: Kleinwagen, Mittelkasse, Oberklasse oder Premium? Diesel, Benzin oder Strom? Die ganze Straße ein einziger wahnwitziger Vergleich. Wo man hinschaut, überall Differenzen, feine Unterschiede, Bausteine für Identitäten, zu denen du dich in Beziehung setzt, oder setzten sollst. Und weil es immer irgendwen gibt, der bei diesem Vergleichsmarathon besser abschneidet, kann damit eine permanente Unzufriedenheit verbunden sein.

Aber warum vergleiche ich mich nicht mal in eine ganz andere Richtung? Zum Beispiel mit einem Bauern oder einer Bäuerin in Äthiopien. Kein Strom, kein Gas, kein Auto, kein Computer. Keine Handyfotos vom Essen, keine Selfies aus dem Urlaub, keine Logos. Ich will damit nicht sagen, dass soziale Unterschiede gerecht sind, oder dass man sich dort nicht vergleicht. Es geht um mein persönliches Empfinden. Das Spektrum für meine Vergleiche wird breiter. Was ich alles habe! In der Pyramide der sozialen Bedürfnisse bin ich ganz schön weit oben. Es gibt sogar einen Staat, der mir hilft, wenn irgendetwas schief läuft. Es besteht nicht die Gefahr, dass ich verdursten oder für mein Trinkwasser zwei Stunden laufen muss. Der nächste Kühlschrank ist nur ein paar Schritte entfernt. Mit anderen Worten: Ich lebe ganz gut hier. Und trotzdem rumort es in mir, immer wieder diese Unzufriedenheit. Kann ich nicht anders? Ist das genetisch? Ist das Besondere am Menschen seine Unzufriedenheit? Vielleicht sollte ich aufhören, mich lokal und digital zu vergleichen. Vielleicht sollte ich es mal etwas globaler versuchen. Vielleicht springt dabei eine neue Identität heraus.

Ein Kommentar

  1. Wer auch nur ein wenig über das eigene enge Feld hinausschaut, muss erkennen, wie überaus privilegiert wir sind. In was für – ja: wunderbaren Verhältnissen wir leben dürfen. Doch niemand traut sich, glücklich darüber zu sein. Weil so vieles nicht gut ist, so viele Einschränkungen, Ungerechtigkeiten, so viel Ignoranz. Man erscheint so unkritisch, wenn man den Frieden, die vorhandene Freiheit, den Wohlstand, die Rechtsstaatlichkeit würdigt. Man erscheint egoistisch naiv. Im Vergleich womöglich schadenfroh. Und doch fühle ich mich bewegt, geradezu verpflichtet, die (zweifellos vergängliche) über alle Maßen hohe Lebens-Qualität mir und anderen immer wieder vor Augen zu führen. Und zu genießen!
    Mag sein, dass es stimmt: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, aber Adorno schreibt auch, dass es dem Menschen vermutlich schwerfiele, in der richtigen Welt zu leben: „Wahrscheinlich wäre für jeden Bürger der falschen Welt eine richtige unerträglich, er wäre zu beschädigt für sie.“
    Warum nicht auf das Richtige konzentrieren, und am weiter am Falschen arbeiten?

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