Alltage

Das Warten an Ampeln /

1.

Der Maßstab für den Zustand unserer Gesellschaften sind die Börsenkurse, die Leitzinsen, die Inflation und das Bruttoinlandsprodukt. Pausenlos gibt es Nachrichten über die ökonomischen Werte. Aber es existiert kein Freundschafts- oder Liebes-Index. Wie es um die Solidarität steht, wird nicht täglich erfasst oder wie sich der Spaß-Kurs entwickelt. An keiner Börse werden Friedens-Aktien gehandelt. Wichtig ist, ob E-Autos und ihre Anschlüsse gefördert werden. Das soziale Leben stellt aus Sicht der Ökonomie einen Teil der Wirtschaft dar. Wir leben auf einem Marktplatz.

Der Mensch, so lauten die seit dem 18. Jahrhundert kursierenden Theorien, sei ein Homo oeconomicus. Dieser ausschließlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten denkende und handelnde Mensch kenne nur ökonomische Ziele und sei besonders durch Eigenschaften wie rationales Verhalten, das Streben nach größtmöglichem Nutzen, die Kenntnis seiner wirtschaftlichen Entscheidungsmöglichkeiten und deren Folgen sowie die vollkommene Information über alle Märkte und Eigenschaften sämtlicher Güter charakterisiert. So gesehen sind Wirtschaft und Rationalität eins. Auch unsere Beziehungen, Familienverhältnisse, das Wasser und die Luft unterliegen der daraus resultierenden Tauschlogik. Wer etwas erreichen will, macht sich zu einer Marke, einer Erzählung. Oder anders formuliert: An allem, jeder und jedem klebt ein Preisschild.

2.

Was aber wäre, wenn diese Idee der Ökonomie und damit die gesamte Globalisierung nur eine Fiktion ist, etwas Imaginäres, ein Narrativ, das weniger auf Fakten beruht als auf Behauptungen. Wäre diese Ökonomie dann eine Ideologie und hätte die Wissenschaft, die sich mit dieser Ideologie beschäftigt, zwangsläufig den selben Stellenwert, wie diejenige, die zur Legitimation des Sozialismus herangezogen wurde? Man kann das auch metaphorisch ausdrücken: Wer einen Hammer im Kopf hat, sieht jedes Problem als Nagel. Dieses Denken, schreibt der Philosoph, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi 1944, könne „über längere Zeiträume nicht bestehen, ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft zu vernichten.“ Andererseits sei es möglich, dass es aufgrund von wirtschaftlichen Krisen zu einer Umkehrung dieses Verhältnisses komme. Die Wiedereinbettung von Märkten in die normativen und politischen Strukturen der Gesellschaft, könne sowohl in demokratischer als auch in totalitärer Form geschehen. 

3.

In der Bundesrepublik regieren zur Zeit drei Parteien, die sich auf unterschiedliche Narrative berufen: die öffentliche Ökonomie mit dem Ziel der sozial gerechten Umverteilung, die Transformation der Ökonomie und deren Ökologisierung sowie die liberale Ökonomie, die davon ausgeht, dass der freie Markt vernünftig ist und immer die beste aller Welten hervorbringt. Das sozialdemokratische Programm läuft auf eine Wiedereinbettung der Ökonomie in die soziale Sphäre hinaus. Die Grünen (früher mit dem Plural „Die Alternativen“ im Untertitel) vertreten nach dem Abschied von ihrem fundamentalistischen Flügel als Realos öffentlich keine Einbettung der Wirtschaft in das Soziale oder die Ökologie, sondern eine Transformation der Ökonomie in Richtung Nachhaltigkeit. Die Freien Demokraten folgen der Idee einer Ökonomie, die als universelle Wahrheit angesehen wird und unweigerlich jedes menschliche Verhalten und alle Handlungen zum Positiven wendet. Die christlich-demokratische beziehungsweise christlich-soziale Partei verfolgt die gleiche ökonomische Erzählung wie die FDP. Allerdings mit zahlreichen populistischen Elementen. Sie verspricht das Land, die Bauern, die Familie, den Glauben, das Auto und die Traditionen zu schützen.

4.

Die SPD, die das Primat der Ökonomie ablehnt, kann ihre soziale Agenda kaum noch glaubwürdig vertreten. Sie profitiert deshalb nicht davon, dass in den letzten Jahren etwas nachgefragt wird, das jenseits der ökonomischen Erzählung liegt. Vielmehr profitieren die Parteien davon, die als Alternative (Singular) in ganz Europa eine Erzählung von Volk, Nation und Rasse anbieten. Ihre Wiedereinbettung der Ökonomie in das Soziale soll angeblich durch eine Überwindung der Globalisierung, all ihrer Vertreter:innen und allem, was damit assoziiert wird, erfolgen. Diese Gesellschaft werde, so das Versprechen, geprägt sein von Wohlstand, Stabilität, Sicherheit und einer exklusiven Solidarität.

5.

Serge Latouche schreibt in „Die Unvernunft der ökonomischen Vernunft“, dass es darum gehe, das Imaginäre des Marktes abzuschaffen, um dem Trug des Ökonomismus zu entkommen. Er zitiert den Philosophen Cornelius Castoriades: „Gefordert ist eine neue imaginäre Schöpfung von einer Wichtigkeit, die in der Vergangenheit ohne Beispiel ist, … die andere Lebensziele aufstellt, die von den Menschenwesen als der Mühe wert anerkannt werden können … Wir müssten eine Gesellschaft wollen, in der die ökonomischen Werte aufgehört haben zentral (oder einzig) zu sein … Das ist nicht nur nötig, um die endgültige Zerstörung der Umwelt abzuwenden, sondern auch und vor allem, um aus dem psychischen und moralischen Elend des heutigen Menschen herauszukommen.“

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