Ludmila Ulitzkaja – eine russische Geschichte
Jede Zeit hat ihr Menschenbild. Und die Zeiträume, in denen es sich ändert, wechselten letztes Jahrhundert beinahe im Rhythmus der Jahrzehnte. In den sechziger Jahren war der Mensch ein Politikum, in den siebziger Jahren erst eine soziologische, dann ein psychologische Baustelle, und Ende der achtziger Jahre nur noch ein genetisches Puzzle. Ob Pädophilie, sportliche Begabung, Alkoholismus, Intelligenz oder Fettleibigkeit: Plötzlich gibt es ein Gen, dass diese Eigenschaften enthält und dem Menschen einen Teil seiner Verantwortung für sich selbst abnimmt.
Vielleicht ist es Zufall, dass das genetische Menschenbild mit der neoliberalen Wende aufblüht und mit der unaufhaltsamen Globalisierung seine ersten Früchte verspricht. Aber wer glaubt schon an Zufälle. Ljudmila Ulitzkaja mit Sicherheit nicht. Die erfolgreiche russische Schriftstellerin hat Biologie studiert und einige Jahre als Genetikerin gearbeitet. In ihrem dritten Roman macht sie die Frage nach der Bedingtheit des Menschen zum zentralen Thema. Die Figurenkonstellation, an der sie diese Diskussion durchspielt, ist eine bis ins kleinste ausgetüftelte Generationenfolge inklusive zweier großer Liebesgeschichten.
Lockere Verhältnisse
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs rettet Pawel Kukotzki, ein genialer Gynäkologe, einer jungen Frau das Leben. Das tut er nicht ganz uneigennützig. Denn der Arzt hat sich sozusagen am OP-Tisch in seine Patientin verliebt. Er heiratet sie nach ihrer Genesung und erzieht Jelenas einzige Tochter, als wäre sie sein eigenes Kind. Tanja wächst in der Stalinzeit auf. Mitte der 50er Jahre wird sie schwanger, ohne genau zu wissen, wer der Vater ihrer Tochter ist. Denn sie hatte ein relativ lockeres Verhältnis zu eineiigen Zwillingsbrüdern. Und vom genetischen Standpunkt erübrigt sich die Frage nach der Vaterschaft damit sowieso irgendwie.
Soweit die literarische Versuchsanordnung, in der Genetik, Erziehung und Gesellschaft säuberlich getrennt werden. Die Repressionen der Stalinzeit scheinen aber viel stärkere Auswirkungen auf die Entwicklung der Personen zu haben als die Genetik: Pawel flüchtet in den Wodka, Jelena zieht sich in sich selbst zurück und während des Tauwetters der 60er Jahre antwortet Tanja mit einer Totalverweigerung.
Die große Erzählerin Ljudmila Ulitzkaja zeichnet anhand dieser bürgerlichen Familie auch nach, wie die liberale Intelligenz in der Sowjetunion systematisch ausgeschaltet wurde. Es ist also kein genetischer Defekt, dass der russischen Gesellschaft dieses Menschenbild heute fehlt.
Ljudmila Ulitzkaja (2000): Reise in den siebenten Himmel. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungart. Volk und Welt. 510 Seiten. Erstmals auf Deutsch 2001. Zur Zeit nur antiquarisch erhältlich.