Diese Welt ist erschreckend schön
Ur ist ein Ort mitten im Weltall.
Mit dieser erstaunlich exakten Angabe beginnt dieser Roman von Olga Tokarczuk. Aber für alle, die konventionellere Bezugspunkte bevorzugen, hält die Autorin auch geografische und historische Koordinaten bereit: Ur liegt im Südosten Polens, irgendwo zwischen Lodz, Lublin und Krakow. Die vielen Geschichten, die dieser Roman, der erstmal im Jahr 2000 ins Deutsche übersetzt wurde, erzählt, ereignen sich zwischen 1914 und der Gegenwart.
Vielleicht ist Ur etwas Besonderes, vielleicht ist Ur aber auch typisch. Eines ist sicher: Im Vergleich zu der vielschichtigen Realität in Ur leben wir in einem wirren Traum aus undeutlichen Geschehnissen, mit austauschbaren Menschen und Städten. In Ur ist alles wichtig. Es gibt keine Nebensächlichkeiten oder Zerstreuungen. Alles, was geschieht, ist pure Existenz. Die Bewohner von Ur kommen aus der Ewigkeit, haben ihre Zeit und lösen sich wieder in der Ewigkeit auf. Und während ihrer Zeit, sind sie der Mittelpunkt der Welt. Deshalb gibt es in Ur unverwechselbare Individuen. Mit einem Wort: Ur ist die Welt, die wir verloren haben.
Olga Tokarczuk wurde 1962 in Sulechów geboren. Ihr erster, 1993 veröffentlichter Roman wurde in Polen als das beste Prosadebüt des Jahres ausgezeichnet. „Ur und andere Zeiten“ ist ihr dritter Roman. Dass sie auch für dieses Buch einen Literaturpreis erhalten hat, ist nicht überraschend. Denn Bücher von dieser Intensität sind rar.
Eine mystisch-märchenhafte Welt
Die studierte Psychologin entführt ihre Leser in eine mystisch-märchenhafte Welt. Und diese Welt ist erschreckend schön und aufregend, brutal und beunruhigend, poetisch und realistisch zugleich. Abgesehen vom Zweiten Weltkrieg passiert in dem von Wäldern umgebenen Dorf, in dem die Weiße und die Schwarze zusammenfließen, nicht viel. Die Leute verlieben sich, zeugen Kinder, ziehen sie auf, bauen kleine oder große Häuser. Und obwohl Ur keine Idylle ist, sehen die meisten keine Notwendigkeit, ihre Heimat zu verlassen. Vielleicht, weil sie wissen, dass man die eigene Mitte nicht verlassen kann. Olga Tokarczuk beschreibt ihre geschlossene Welt in einer einfachen und trotzdem dichten, unglaublich flüssigen Sprache, die von Esther Kinsky perfekt übersetzt worden ist. Und noch etwas ist bemerkenswert: Die Autorin setzt ihre Welt aus Figuren zusammen, denen sie ihr ungeteiltes Verständnis entgegenbringt. Das macht dieses Leseerlebnis rundum sympathisch. „Ur und andere Zeiten“ ist eine echte Entführung aus unserem engen hektischen Raum in eine Zeit, die in jeder Sekunde einen Hauch von Ewigkeit atmet.
Olga Tokarczuk (1996): Ur und andere Zeiten. Aus dem Polnischen übersetzt von Esther Kinsky. Kampa Verlag Zürich, 2019, 336 Seiten, 24 Euro. Erstmals auf Deutsch, 2000, Berlin Verlag