Poetikon

Auf beiden Seiten der Grenze /

Immer mal wieder werfen die Alten den Jungen vor, sie würden nicht richtig revoltieren. Occupy Wall Street und Fridays for Future seien keine echten Revolten gewesen.

Albert Camus schreibt, eine Revolte beginne mit einem Nein. Ein Nein, das eine Grenze definiert. Bis hier und nicht weiter! In diesem Nein verberge sich ein noch nicht definiertes Ja, „ein Recht haben auf“. Mit dem Satz „How dare you“ hat Greta Thunberg diese Grenze gezogen und das Ja definiert. Die Überlegung von Camus lässt sich mit einem Gedanken von James Baldwin noch etwas schärfen. Er sagt, dass Gewalt nicht so funktioniert, wie deren Befürworter es glauben. Sie offenbart dem Opfer nicht die Stärke des Gegners. Im Gegenteil, sie offenbart ihm dessen Schwäche, ja sogar dessen Panik. Dies stattet die Opfer mit Leidensfähigkeit aus und mit Leidenschaft.

Also: Ein Nein, ein Recht haben auf, eine Grenze ziehen, Gewalt, Leiden und Leidenschaft. Welches Nein wird ausgesprochen, welche Grenze gezogen, welches Recht beansprucht, welches Leiden liegt dem zugrunde? Und welche Art der Gewalt wird von wem ausgeübt?

Wer das „you“ ist, das in Gretas Thunbergs Satz die Grenze markiert, versuchen Dana Giesecke und Harald Welzer in „Zu spät für Pessimismus“ zu fassen: Es sind die „Fetischist*innen eines aggressiven Weiter-So! oder Höher-Weiter-Schneller!, die im Chor ihr immer gleiches Lied von der Alternativlosigkeit ihrer Kack-Welt singen.“

Welche Gewalt üben sie aus? Wo verläuft die Grenze zwischen Täter und Opfer? Zwischen den verständnisvollen Eltern und ihren empathischen Kindern, den passiven Armen und den aggressiven Reichen, den Autobauern und Radfahrern, dem lässigen Software-Giganten und der High-Performerin im Reihenhaus nebenan? Oder verläuft sie in mir?

Baldwin schreibt in den achtziger Jahren: Der Wohlstand des Westens habe Millionen von Menschen das Leben gekostet. Und jetzt seien diejenigen, die am eindrucksvollsten von diesem Wohlstand profitieren, nicht länger fähig diesen Wohlstand zu ertragen: Sie können ihn weder verstehen noch ohne ihn leben. Die Kunst wird sein, das zu begreifen und Nein zu sagen, ohne wirklich zu leiden. Bevor die Panik beginnt.

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