Naomi Klein – Glaub nicht an den Turnschuh
„No Logo!“ von Naomi Klein ist ein Klassiker. Die kanadische Journalistin analysiert in ihrem im Jahr 2000 veröffentlichten Buch die Globalisierung, die postindustrielle Gesellschaft und den Neoliberalismus am Beispiel der schönen neuen Markenwelt.
Naomi Klein stellt die Situation in den 90er-Jahren so dar: Große Unternehmen und Konzerne lagern ihre Produktion in Billiglohnländer aus und steigern so ihre Gewinne. Die Warenproduktion in modernen Industriegesellschaften wie den USA oder Europa verliert an Bedeutung. Dafür entstehen im Dienstleistungssektor neue Arbeitsplätze. Aber auch hier gibt es ein neues Modell zur Gewinnoptimierung: die Auslagerung an Subunternehmer. Arbeitnehmer, die teilweise lebenslang in einem Betrieb beschäftigt waren, werden in die Selbständigkeit gedrängt. Gewerkschaften gelten als veraltet. Von nun an soll jeder seinem Arbeitgeber allein gegenüber stehen. Für Jugendliche ist das in den 90er-Jahren die neue Normalität. Das damit verbundene Versprechen lautet, als „Freelancer“ oder „Ich-AG“ werde man mehr verdienen und wesentlich freier und selbstbestimmter arbeiten als bisher. Berühmte Milliardäre, die diese Entwicklung vorangetrieben haben, sind unter anderen Sir Richard Branson, Jeff Bezos und Bill Gates.
Campus-Streit – zwischen Ökologie und Sexismus
Zur gleichen Zeit finden an vielen Universitäten scharfe Auseinandersetzungen um Feminismus, Sexismus, Rassismus und Ökologie statt. Das intellektuelle Milieu diskutiert vorwiegend Fragen der Repräsentanz. Also: Wer ist wie oft und auf welche Weise sichtbar, sei es in der Politik, den Medien oder der Werbung. Doch die neoliberale Ideologie und Politik ruft immer mehr Kritikerinnen und Kritiker auf den Plan. Sie werden zu Aktivisten:innen, gründen NGO’s und eventuell sogar politische Parteien. Eine direkte Linie führt von hier zu den 2011 unter „Occupy Wall Street“ bekannten Protesten. Aber auch „Black Lives Matter“, die LBGTQ-Bewegung und „Fridays for Future“ nehmen fast 30 Jahre später einige Fäden dieser Gegenbewegung wieder auf.
Auf den ersten Blick scheint das nicht viel mit der Markenpolitik großer Unternehmen zu tun zu haben. In den Anfängen der industriellen Produktion, so Klein, diente die Markierung von seriell erzeugten und verkauften Dingen dazu, ihnen eine persönliche Note zu geben und so den vom Supermarkt verdrängten Tante-Emma-Laden an der Ecke oder den stadtbekannten Tischler zu simulieren. Die seelenlosen Industrieprodukte sollten eine menschliche Aura bekommen. Mit der Zeit nimmt die Aufladung von Produkten mit ideellen Inhalten immer weiter zu.
Auf die Babyboomer folgt die globale Generation X
Nach den Babyboomern, denen Individualität als dominantes Merkmal zugeordnet wird, folgt in den 90er-Jahren die nach Vielfalt und Authentizität strebende globale Generation X. Um erfolgreich zu sein, wollten viele Unternehmen jugendliche Konsumenten an sich binden und langfristige „Markenidentitäten prägen, die mit der neuen Kultur auf derselben Wellenlänge lagen. Wenn die Unternehmen ihre glanzlosen Produkte in transzendente Sinnvermittlungsmaschinen verwandeln wollten – wie es die hohe Schule des Branding vorschrieb – , mussten sie sich nach dem coolen Image der 90er-Jahre neu erschaffen – mit der richtigen Musik, dem richtigen Stil und der richtigen Politik.“
Markenprodukte sind nicht einfach nur Produkte. Einen Turnschuh von Nike zu tragen, bedeutet mit „dem“ Sport und „dem“ Laufen eine einzigartige geistige Verbindung einzugehen. Die so markierte Ware verschmilzt mit der Identität ihrer Konsumenten oder Nutzer. Karl Marx bezeichnet das quasi-religiöse Verhältnis, durch das in arbeitsteiliger Produktion hergestellten Dingen Eigenschaften zugeschrieben werden, die sie nicht haben, als Warenfetisch. Logische Weiterentwicklungen stellen für ihn der Geldfetisch und der Kapitalfetisch dar. Was damit gemeint ist, wird durch einen Blick auf ein paar der gegenwärtigen fast schon mystisch aufgeladenen Milliardär-Darsteller klar.
Warenfetisch wird zu Marken ausgebaut
Zurück zu Naomi Klein. Sie beschreibt, wie der Warenfetisch zu Marken ausgebaut wird, so dass große Unternehmen sich nicht mehr über die Produkte definieren, die sie irgendwo in irgendeiner schäbigen Fabrik fertigen lassen, sondern über den „Sinn“, den sie diesen Dingen zuschreiben. Viele Beispiele in „No Logo!“ stammen aus der Textilindustrie. Hier kann man die Verknüpfung von Marke und Identität in ihrer reinsten Form beobachten.
Wie Jugendliche bei ihrer Suche nach Authentizität, Distinktion und Zugehörigkeit einer cleveren, oft zynischen Strategie auf den Leim gehen, zeigt das von vielen Bekleidungsfirmen kopierte Vorgehen von Tommy Hilfiger. Während die Welt von „United Colors of Benetton“ spätestens seit 1989 keine Rassenschranken mehr zu kennen scheint, arbeitet Tommy Hilfiger damit. Die ursprünglich für Jugendliche aus dem gehobenen weißen Mittelstand gedachte Kleidung macht eine erstaunliche Metamorphose durch. Als sie in den Innenstädten bei den Unterschichten beliebt wird, weil diese sich damit an das Jachtclub-Prestige, das Hilfiger verkörpert, angeschlossen fühlen, beginnt sie cool zu werden. Hilfiger ändert den Schnitt und die Farben in Richtung Hip-Hop, um diesen Trend zu verstärken. Rapper wie Snoop Dogg werden mit kostenloser Kleidung überhäuft. Als Hilfiger als Ghettomarke etabliert ist, fängt die eigentliche Erfolgsgeschichte an. Plötzlich gilt Hilfiger bei den Jugendlichen der globalen Mittelschicht als obercool. Die soziale Entfremdung, die diese rassistische und klassistische Marketingstrategie spiegelt, ist kaum zu überbieten: Schwarze und Arme wollen an den Fetischen der Mittelschicht teilhaben und laden die Produkte mit ihrem Image auf. Die Mittelschicht hingegen giert danach, dass etwas von der Coolness der Armen und Schwarzen auf sie abfärbt.
Bilder und Zeichen der Post-Industrie füllen den öffentlichen Raum
Bei Naomis Kleins Werbekritik geht es aber nicht nur um stereotype Frauenbilder, männliche Allmachtsphantasien und rassistische Zuschreibungen. Sie sieht darin eine Okkupation des öffentlichen Raums mit den Ideologien, Bildern, Zeichen und Ideen der Post-Industrie. Die 2021 in München über die ganze Stadt verteilte IAA ist ein Beispiel für so eine Besetzung und Markierung des öffentlichen Raums. Reiste man in den frühen 90er-Jahren nach Prag, Warschau oder Vilnius, konnte man eine erstaunliche Erfahrung machen: Die Innenstädte wirkten auf den ersten Blick beängstigend leer und kahl. Erst mit der Zeit stellte sich ein Gefühl von Freiheit und Entspannung ein. Es gab keine Werbung, keine Botschaften, keine Zeichen, die einen permanent beeinflussten. Vor kurzem haben die Verwaltungen von Sao Paulo und Genf beschlossen, Werbung aus den Innenstädten zu verbannen.
Im Jahr 2000 beschreibt Naomi Klein die Zukunft des Marketings so: Aus der bekannten Werbung durch Plakate, Radio und Fernsehen wir eine Street- und Net-Promotion, in der Marketing von „Mann zu Mann“ betrieben wird, von „Insider zu Insider“. Dafür werden die Unternehmen ganze „Armeen“ von Street-Promotern engagieren. Also „ausgewiesene Repräsentanten einer demografischen Gruppe, die sich willig in wandelnde Werbeträger von Nike, Reebok und Levi’s verwandeln lassen.“ Mit der Digitalisierung und den sozialen Medien hat sich diese Entwicklung rasant verstärkt und kulminiert im „Influencer“. Das wären in den USA gerne 54 Prozent aller 13- bis 36-Jährigen, in Deutschland 35 Prozent.
Individuell zugeschnittene Werbung in Echtzeit
Was die Werbung betrifft, hat in den letzten 20 Jahren ein weiterer Paradigmenwechsel stattgefunden. Brauchte man in den 90er-Jahren noch Unmengen von Studien und „Scouts“, um herauszufinden, was in den Zielgruppen gerade angesagt ist, liefern die Konsumenten diese Daten heute über ihr Nutzerverhalten direkt in die Marketingabteilungen. Individuell zugeschnittene Werbung erscheint fast in Echtzeit auf dem Display. Der Verbraucher, Konsument oder Nutzer ist so durchsichtig wie nie zuvor.
Fasst man die Ergebnisse von Naomi Klein zusammen, ergibt sich das Bild einer Wirtschaft, die wesentlich ideologischer ist, als sie selbst von sich behauptet. Der Roman „The Circle“ (2017) von Dave Eggers beschreibt die innere pseudoreligiöse Bindung, die große Software-Firmen zu ihren Mitarbeitern aufbauen. Dietrich Mateschitz, der Erfinder einer koffeinhaltigen Brause namens Red Bull, hat „seine“ Idee von Leistungsfähigkeit, Sport und Risiko zum reichsten Mann Österreichs gemacht. Doch das Denken in Marken hat die Gesellschaft mittlerweile auf eine ganz andere Weise durchdrungen. Nicht-Sichtbarkeit wird in der digitalen Welt als existenzielle Bedrohung empfunden. Um sichtbar zu sein, heißt es, müsse sich das Individuum in den sozialen Medien in eine Marke verwandeln. Individuen werden dadurch zu Produkten oder Konsumartikeln und zwar im Do-it-yourself-Verfahren (Zygmunt Bauman).
Als Verkörperung für den Dreiklang aus Gewinnmaximierung, dem Abbau von guten Arbeitsplätzen und dem Verkaufen von Marken stehen auf der einen Seite die als glänzende Vorbilder geltenden Milliardäre. Ihnen gegenüber befindet sich eine von prekären Arbeitsverhältnissen dominierte Realität: Verlierer, erschöpft strampelnde Absteiger und unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeitenden Frauen und Männern, die ihre traurige, stressige oder vollkommen hoffnungslose Situation angeblich auch noch selbst verschuldet haben. Das führt zu einem neuen Klassiker, der sich mit der weltweiten Vermögensverteilung beschäftigt: „Kapital und Ideologie“ (2019) von Thomas Piketty.
Naomi Klein hoffte auf eine bunte Gegenbewegung
Naomi Klein setzt im Jahr 2000 ihre Hoffnung auf eine bunte, globale, alternative, linke Gegenbewegung, die sich diesen Verhältnissen erfolgreich entgegenstellt. Dass der Vertrauens- und Loyalitätsverlust gegenüber dem Staat, den die neoliberalen Versprechen hinterlassen haben, in paranoide Verschwörungstheorien münden, konnte sie nicht voraussehen. Auch dass neue Nationalisten die Enttäuschungen über die neoliberale Ideologie und die von ihr verursachten Migrationsbewegungen durch Ab- und Ausgrenzung, Autorität, Rassismus, Sexismus, Xenophobie, Homophobie und einem Zurückdrehen der Frauenemanzipation erfolgreich in politische Macht ummünzen würden, war damals schwer vorstellbar.
Naomi Klein (2000/dt. 2001): No Logo! Der Kampf der Global Players um die Marktmacht. Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern. Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Heike Schlatterer. Riemann Verlag.